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Endlich war sie wieder am See. Nane war mitten in der Nacht aufgestanden, hatte in ihrer kleinen Frankfurter Wohnung ein paar Sachen zusammengepackt und war danach in Richtung Südwesten aufgebrochen. Sie fröstelte wegen des Schlafmangels, und nach den vielen vergossenen Tränen der letzten Tage fühlte sie sich innerlich ganz wund und leer. Und doch nahm sie dankbar wahr, dass die frische Herbstluft ihr Gesicht streichelte. Zu dieser frühen Stunde war das große Wasser eine glatte Fläche, von der sich langsam muschelgraue Nebelfetzen lösten. Ein Stück entfernt zogen ein paar Enten gemächlich ihre Runden. Bis auf ein einzelnes Licht in der dunklen Restaurantzeile hinter ihr schlief die sonst so belebte Uferpromenade noch.
Es war nun schon einige Jahre her, dass sie zuletzt am Lindauer Hafen gewesen war, mit seinen unverkennbaren Insignien, dem Leuchtturm am Ende der rechten Mole und dem steinernen Löwen am Ende der linken, und jetzt bedauerte sie ihr Versäumnis zutiefst. Wie hatte sie ihre Großmutter so lange Zeit mit halbherzigen Telefonaten und ein paar Weihnachtskarten abspeisen können? Ihr alter Groll gegen sie kam Nane auf einmal nur noch lächerlich vor. Jetzt war die Oma tot, und alle Tränen der Welt konnten nichts mehr wiedergutmachen.
Christiane Auberlin, Nane genannt, mit braunen Locken, dunklen Augen und einem aparten Leberfleck oberhalb des linken Mundwinkels, war vor Kurzem vierunddreißig geworden. Von Kindheit an die Fleißige, die Tüchtige, die Kompetente, die sich allen Anforderungen stets mutig gestellt hatte. Auf einmal jedoch schien sie nicht mehr zu funktionieren, so große Mühe sie sich auch gab. Sie schlief seit Wochen schlecht, litt unter Herzrasen und unerklärlichen Schweißausbrüchen, wenn sie in den Apotheken die phänomenale Wirkung der Schlankheitspräparate anpries, die sie seit einigen Jahren im Außendienst für eine internationale Pharmafirma vertrieb. Inzwischen hatte sie sich an ihren Job gewöhnt, und manchmal mochte sie ihn sogar. Wieso rang sie dann jetzt immer öfter vor den Kunden um die passenden Worte, sie, der bislang in Verkaufsgesprächen die Sätze doch stets glatt über die Lippen gegangen waren?
Allein daran zu denken machte Nane schwindlig. Alles um sie herum schien sich zurückzuziehen, und die Konturen der Umgebung wirkten wattig wie in einem defekten Weichzeichner. Langsam ging sie auf einen der angeketteten Caféstühle zu und setzte sich vorsichtig hin.
Ich bin einfach total überarbeitet, daran wird es liegen, dachte sie und wusste im selben Moment, dass es nicht die ganze Wahrheit war. Ausweichen und verstecken war ihr im Lauf der Zeit zur Gewohnheit geworden, doch ihr Körper zeigte nun unerbittlich, was das auf Dauer mit ihm anstellte. Plötzlich schwoll das brummende Rauschen im Gehörgang an – ihr mittlerweile leider schon so vertraut, dass sie es bis eben kaum wahrgenommen hatte.
Dann jedoch erwachte ihr alter Kampfgeist.
Sie war zu spät gekommen, um mit ihrer Großmutter endlich Frieden zu schließen. Aber immerhin konnten sie sie anständig beerdigen – und das würden sie tun, sobald der Zug eintraf, mit dem