Leo
Norwegen
Leo hasste es, wie ein Kleinkind beiseitegeschoben zu werden. Nur weil sein Vater ihn von dem Treffen mit der Noaidi ausschließen wollte, würde er ganz bestimmt nicht zu Hause hocken bleiben. Mit langen Schritten rannte er über den Schnee auf das Zelt zu, aus dem die Trommelschläge bis weit über den Fjord klangen. Die Nordlichter tanzten über den Nachthimmel, warfen ihr grünes, blaues, violettes Licht über Meer und Schnee. Leo lief so schnell und leicht, dass der Schnee nicht einmal unter seinen Stiefeln knirschte.
Erst kurz vor dem Zelt wurde er langsamer. Im Schutz der lauten Trommelschläge schlich er dicht an die Zeltbahnen heran und schob zwei von ihnen vorsichtig auseinander. Das war der gefährlichste Moment. Wenn er die falsche Stelle gewählt hatte, wenn sein Vater ihm genau gegenüberstehen sollte, wenn die Trommel ausgerechnet jetzt verstummte – mit starren Fingern öffnete er einen kleinen Spalt, nur so schmal, dass er hineinspähen konnte.
Sein Vater stand ganz im Bann der Noaidi und ihrer Trommel, so wie alle anderen im Zelt. Auch Leo konnte sich ihm nicht entziehen. Der Rhythmus der Trommelschläge hallte durch seinen Körper wie ein warmes Beben. Dann brach er ab.
Leo hielt still. Die Noaidi schlug die Augen auf, und obwohl sie ihn nicht ansah, hatte er das Gefühl, ihr Blick würde die Zeltwand durchdringen. Ihre Augen hatten zwar eine sanfte braune Farbe und nicht das stechende Eisblau seines Clans, doch die Sanftheit täuschte. Leo stand regungslos da, als wäre er ein Teil der gefrorenen Landschaft. Aber die Noaidi hob nur die mit Tattoos überrankten Arme und sagte genau ein Wort: »Ende.«
Im Zelt fing sich sein Vater als Erster. Wer sonst. Leogrinste. Doch sein Vater wirkte besorgt. »Das Ende wovon?«
»Von allem.«
Prophezeiungen hatten offenbar nichts mit Klarheit zu tun. Leo wünschte, er könnte ins Zelt stürmen, die Noaidi packen und schütteln, bis sie sich verständlich ausdrückte.
»DieElisabetha wird wieder über die Meere segeln.«
»Was soll das heißen?« Sein Vater klang genauso verwirrt, wie Leo sich fühlte. Was hatte ein Segelschiff mit dem Ende von allem zu tun? Was sollte ›das Ende von allem‹ überhaupt bedeuten? Das Ende der ganzen Welt? Seines Clans? Leo verzog den Mund gleichzeitig mit seinem Vater. Als ob irgendjemand oder irgendetwas die Dracas vernichten könnte.
Die Noaidi beachtete seine Frage nicht. »Die Kinder aller Clans müssen zusammenkommen«, fuhr sie fort.
Wenn jemand anders als eine Noaidi seinem Vater so einen absurden Vorschlag gemacht hätte, wäre dieser handgreiflich geworden. Der Ehrwürdige der Dracas verstand keinen Spaß, das hatte Leo selbst schon oft genug erfahren müssen. Doch jetzt im Zelt fragte sein Vater nur nach dem Warum.
Die Noaidi nahm sich Zeit mit ihrer Antwort und sagte dann wieder nur ein Wort: »Rotmasken.«
Leo unterdrückte gerade noch ein verächtliches Schnauben. Als wärenMenschen eine Bedrohung für seinen Clan! Das Lachen seines Vaters dröhnte durch das Zelt. »Die Rotmasken sind hier so gut wie ausgerottet. Selbst ihr berüchtigter Gründer hat sich verkrochen.« Er lachte erneut auf. »Nicht einmal die Rotmasken wissen, w