: Günter Görlich
: Die verfluchte Judenstraße
: EDITION digital
: 9783965217065
: 1
: CHF 4.80
:
: Historische Romane und Erzählungen
: German
: 116
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: PDF
In einem Vorwort zu seinem Buch nimmt der Autor Bezug auf die Zeit des Schreibens: Da ich diese Zeilen zu Papier bringe, im Herbst 1992, ist in Europa Krieg, ist in Asien Krieg, in Afrika. Da ich diese Zeilen schreibe, ist die Welt erschrocken über das Niederbrennen der jüdischen Baracke im ehemaligen Konzentrationslager Sachsenhausen. Zu Beginn des Jahres 1991 reifte in mir der Plan, eine Geschichte zu schreiben, die nun gedruckt vorliegt. Sie heißt 'Die verfluchte Judenstraße'. Diese Geschichte, in der es um Menschliches und Unmenschliches geht - beides liegt im Krieg immer dicht beieinander -, spielt Anfang April 1945 in Görlichs Geburtsstadt Breslau. Einem bitterkalten Winter folgte damals ein sehr warmes Frühjahr. Er habe Erlebtes, so Görlich, als sehr junger Mensch grauenvoll Erlebtes, in die Erzählung hineingenommen, und habe eine ungewöhnliche Liebesgeschichte erfunden, die aber möglich gewesen wäre in dieser wahnsinnigen Zeit. Zugleich fragt der Autor nach dem Sinn und nach den Möglichkeiten von Literatur in der heutigen Zeit. Görlichs Geschichte spielt in Breslau, das mit wenigen Sätzen so charakterisiert wird: Aber weit im Rücken der Front vor Berlin war eine Stadt von den Russen fest eingeschlossen. Sie lag an der Oder und hieß Breslau. Schon seit Februar war sie eingekesselt und durch erbitterte Kämpfe arg zerstört. Die in der Stadt waren, Soldaten, Kinder und Frauen, alte Leute, dachten angstvoll an das nahende Ende. Sie wollten alle leben, überleben. Aber was wird sein, wenn die Russen die Stadt erobern? Vergeltung werden sie üben, Rache nehmen. Dann ist von zwei jungen deutschen Soldaten die Rede, beide waren Söhne von Lokomotivführern und beide waren im Januar siebzehn geworden, die in einem Keller in der Frontlinie im Süden der Stadt hocken - Hans Sawade und Herbert Sommerlatte. Nach ihrer Ablösung erfahren sie von einem besonderen Einsatz, den Oberleutnant Persicke befohlen hat. Aus einer Straße sollen sie dort noch lebende jüdische Mischlinge holen. In mäßigem Tempo fährt ihre Kolonne in Richtung Güterbahnhof. Dort lag die Judenstraße - die verfluchte Judenstraße. In der Wohnung im Haus Nr. 14 entdecken Sawade und Sommerlatte eine alte Frau und ihre Enkelin Eva. Und plötzlich kommt dem Soldaten Sawade das jüdische Mädchen schön vor ... Am Ende seines Vorworts schreibt Günter Görlich: 'Aber ein Buch, das man liest, fördert die Auseinandersetzung mit sich selbst, es weckt Emotionen. Ich glaube doch an die Möglichkeiten von Literatur.'

Günter Görlich Geboren am 6. Januar 1928 in Breslau, gestorben am 14. Juli 2010 in Berlin. Ab 1944 Flakhelfer, sowjetische Kriegsgefangenschaft bis Oktober 1949. Bauarbeiter, Volkspolizist. Nach dem Pädagogikstudium war er Erzieher in einem Jugendwerkhof und in einem Lehrlingswohnheim. 1958 erhielt er für sein erstes Jugendbuch 'Der Schwarze Peter' den Jugendbuchpreis des Ministeriums für Kultur. Weitere Auszeichnungen: Kunstpreis des FDGB 1966, 1973 Nationalpreis 2. Klasse 1971 Held der Arbeit 1974 Nationalpreis 1. Klasse 1978 Joh.-R.-Becher-Medaille in Gold 1979 Vaterländischer Verdienstorden in Gold 1979 Ehrenspange zum VVO in Gold 1988 Goethepreis der Stadt Berlin 1983
Hans Sawade kam aus tiefem Schlaf, musste sich erst zurechtfinden beim Erwachen. Das Kellergewölbe wurde durch eine Lampe am Eingang spärlich erleuchtet. Von dort fiel auch schwaches Licht herein. Draußen war also heller Tag. Hans Sawade gingen die wirren Bilder des vergangenen Tages durch den Kopf. Nach Rückkehr von der Bewachung der Leute aus der Judenstraße hatte Mudra noch Waffenreinigen angesetzt. Vor Müdigkeit fielen die Jungen fast um, aber die Waffen mussten gewartet werden. Wie ein Film lief bei Hans Sawade der gestrige Tag ab, der drohende Ton Persickes am Morgen, als er den Sondereinsatz erläuterte, die menschenleere Judenstraße, die Aktion in den Häusern, und er und Sommerlatte bei der alten Frau und dem Mädchen, das Eva hieß. Und er hatte das Mädchen ganz deutlich vor Augen, sein glattes, blondes Haar, den schmächtigen Körper in dem weiten Männerpullover und die Füße in den schweren Schnürschuhen. Und er sah, wie das Mädchen im Strom der anderen auf das Tor zum Schulhof zutrieb. Er hatte ihr nachgeschaut, bis er das blonde Haar nicht mehr erkennen konnte. Was war in der Nacht, in der er vor Müdigkeit und Erschöpfung traumlos auf dem Strohsack schlief, auf dem Schulhof geschehen? Oder hatte die SS die Festgenommenen weitergetrieben? Zu den Oderwiesen? In die Kiesgruben? Warum aber dachte er an das Mädchen, zu dem er nur einen halben Satz gesprochen hatte? Nach Persicke gehört es zu den Elementen, die der kämpfenden Festung schaden wollen. Und die sind auszuschalten in diesem Schicksalskampf für Deutschland. Das Mädchen und die alte Frau, die kleinen Kinder und die alten Männer müssen ausgeschaltet werden? Vielleicht gehört der junge Mann, den sie mit Kolbenstoßen aus dem Haus getrieben haben, zu den Feinden. Die anderen aber? Der Platz neben Hans Sawade war leer. Sommerlatte war schon vom Strohsack hoch, trieb sich draußen herum, schaffte was ran. Im Kellergewölbe stand stickige, abgestandene Luft, es stank nach feuchtem Stroh und Urin. Und es war kühl. Doch daran kann sich der Soldat gewöhnen, hier unten war man sicher wie in Abrahams Schoß. Das behauptete Mudra, wenn wieder ein Bombenangriff über die Stadt hinweggegangen war, das sagte er nach dem stundenlangen, pausenlosen Artilleriefeuer, das auf die Stadt einschlug von Mitte Februar bis tief in den März hinein. Die Brauereigebäude über den Gewölben wurden sehr mitgenommen, doch die Keller darunter hatten standgehalten. Hans Sawade streifte sein Drillichzeug ab, in dem er geschlafen hatte, und klopfte seinen grauen Uniformrock aus. Eigentlich wollte er heute seine Unterwäsche mit Kernseife bearbeiten, doch schon, als er daran dachte, hatte er keine Lust mehr. Er stieg aus dem Gewölbe zum Brauereihof hinauf. Das helle Sonnenlicht blendete ihn, der Himmel war wolkenlos. Am rohgezimmerten Holztisch saß barhäuptig und im geöffneten Uniformrock Oberfeldwebel Mudra. Hans Sawade holte sich einen Kanten Kommissbrot, Marmelade, harte Wurst und im Kochgeschirr Malzkaffee. Er schlug die Hacken zusammen und fragte: 'Darf ich Platz nehmen, Herr Oberfeldwebel?' Mudra, der in einer alten Illustrierten las, schaute verwundert hoch. 'Sawade, du Idiot. Was fragst du so förmlich? Soll ich jetzt sagen, schließ den Knopf an der Brusttasche? Soll ich dich über den Hof scheuchen? Wer soll sonst hier sitzen, Sawade? Du natürlich. Und du hast es verdient. Ihr alle habt's verdient, ihr Bürschlein. Was haben die euch aufgeladen. Na los, hau das Zeug runter. Wir haben nichts Besseres.' Immer vorsichtig mit Mudra, dachte Hans Sawade. Hätte ich mich einfach hingesetzt, wer weiß, was passiert wäre. Aber die Freundlichkeit Mudras hatte einen Grund. Das war der Inhalt des Kochgeschirrs, aus dem er hin und wieder einen Schluck Wein nahm. Mudra lachte laut, schlug sich auf die Schenkel, tippte mit dem Zeigefinger auf die Zeitschrift. 'Menschenskind, ein paar Monate erst alt das Blättchen, und was hat sich alles verändert. Hier steht was geschrieben zur Ardennenoffensive zum Jahresende. Das letzte Mal ging's vorwärts. Auch meine Truppe war dabei. Muss ein schönes Gefühl gewesen sein. Ich lag im Lazarett und war darüber heilfroh. Ahnte den Schlamassel, hab' ihn gerochen. Und so kam's ja auch. Dachte, hast Schwein gehabt, alter Halunke. Vielleicht geht der Kelch an dir vorüber im größten aller Kriege.