: Sven Regener
: Wiener Straße
: Verlag Kiepenheuer& Witsch GmbH
: 9783462317497
: 1
: CHF 10.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 304
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Ein großer Roman voll schräger Vögel in einer schrägen Welt. Derbe, lustig und bizarr wie seine Protagonisten. Wiener Straße beginnt im November 1980 an dem Tag, an dem Frank Lehmann mit der rebellischen Berufsnichte Chrissie sowie den beiden Extremkünstlern Karl Schmidt und H. R. Ledigt in eine Wohnung über dem Café Einfall verpflanzt wird, um Erwin Kächeles Familienplanung nicht länger im Weg zu stehen. Österreichische Aktionskünstler, ein Fernsehteam, ein ehemaliger Intimfriseurladen, eine Kettensäge, ein Kontaktbereichsbeamter, eine Kreuzberger Kunstausstellung, der Kampf um die Einkommensoptionen Putzjob und Kuchenverkauf, der Besuch einer Mutter und ein Schwangerschaftssimulator setzen eine Kette von Ereignissen in Gang, die alle ins Verderben reißen. Außer einen! Kreuzberg, Anfang der 80er Jahre - das war ein kreativer Urknall, eine surreale Welt aus Künstlern, Hausbesetzern, Freaks, Punks und Alles-frisch-Berlinern. Jeder reibt sich an jedem. Jeder kann ein Held sein. Alles kann das nächste große Ding werden. Kunst ist das Gebot der Stunde und Kunst kann alles sein. Ein Schmelztiegel der selbsterklärten Widerspenstigen, die es auch gerne mal gemütlich haben, ein deutsches Kakanien in Feindesland. Wer könnte böser und zugleich lustiger und liebevoller darüber schreiben als Herr-Lehmann-Erfinder Sven Regener?

Sven Regener ist Musiker (Element of Crime) und Schriftsteller. Seine Romane Herr Lehmann (2001), Neue Vahr Süd (2004), Der kleine Bruder (2008), Magical Mystery oder: Die Rückkehr des Karl Schmidt (2013), Wiener Straße (2017) und Glitterschnitter (2021) waren allesamt Bestseller. Sie wurden verfilmt und in viele Sprachen übersetzt.
Inhaltsverzeichnis

IIDAS WIRD SUPER


Am nächsten Morgen kam Frank Lehmann schon kurz vor zehn ins Café Einfall. Er wollte das Putzen erledigt haben, bevor es mit der Renovierung der neuen Wohnung weiterging, er hatte es eilig, bei Erwin gingen langsam die Lichter aus, in Erwins »Wohnen-wie-in-Mexiko«-Fabriketage standen die Zeichen auf Helga und das Kind und ansonsten auf Sturm, sein, Franks Zimmer, das eigentlich das seines Bruders war, eine kleine, in die Fabriketage eingebaute kubische Hütte aus Gipskarton und Holz, sollte das Kinderzimmer werden, deshalb hatte Erwin ihn um Zugang gebeten, damit er es ausmessen und mit Helga Sachen dafür einkaufen und überhaupt schon im Vorfeld das Kinderzimmer genau planen und einrichten konnte, und auch wenn Frank bis Ende des Monats die Miete für seinen Bruder gezahlt hatte, so war aber auch sonnenklar, dass es danach keine Verlängerung geben würde und das Ende des Monats war nicht mehr weit.

Deshalb war er schon früh aufgestanden und in eine Markthalle in der Nähe gegangen, um Putzzeug einzukaufen, und nun kam er mit neuen Schwämmen, neuen Reinigern, neuem Feudel, neuem Schrubberkopf, neuen Gummihandschuhen, ja sogar einem neuen Eimer in das Café Einfall, für das ihm Erwin mit großer Geste am Vorabend mit den Worten: »Pass bloß gut drauf auf, die sind teuer«, die Schlüssel überreicht hatte.

Frank hatte gerade den Rollladen vor dem Eingang hochgeschoben und die Tür aufgeschlossen, da stand Nachbar Marko hinter ihm.

»Habt ihr schon geöffnet?«

»Nein, ich will bloß putzen.«

»Allet klärchen«, sagte Marko und folgte Frank in die Kneipe. Frank zog die Rollläden vor den Fenstern hoch, während Marko nahe der Eingangstür stehen blieb. Frank traute sich nicht zu fragen, was er wollte, irgendwie hatte er Angst vor Marko, nicht in dem Sinne, dass der ihm was auf die Fresse hauen oder ihm in einem sonstwie klassischen Sinne bedrohlich werden könnte, sondern wegen der Einsamkeit, die er ausstrahlte; Frank war aus Bremen abgehauen, hatte keinen richtigen Job, sein Bruder wollte, nachdem er als Proband für Psychopharmaka, als der er gerade am Ku’damm logierte, genug Geld verdient hatte, nach New York und also von hier und damit ihm, Frank, wegziehen, seine Bekannten waren alle neu und er verstand sie nur zum Teil und auch zu diesem Teil nicht besonders gut, kurz, Marko und seine Einsamkeit waren gefährlich, Marko war die leibhaftige Vorführung dessen, was einem passieren konnte, wenn man in dieser Stadt nicht klarkam, das ängstigte Frank und Angst konnte er jetzt nicht gebrauchen, man darf sich nicht fürchten und nicht abschlaffen, dachte er, während er seine Einkaufstüte ausleerte, die neuen Putzschwämme aufstapelte und den Schrubberkopf und den Feudel auspackte, es ist, wie wenn man auf einen hohen Turm klettert, da darf man unterwegs nicht runtergucken, sonst fällt man, schärfte er sich in Gedanken ein.

»Ich dachte, ihr wollt die Wohnung renovieren!« sagte Marko. »Hab vorhin geklopft, aber war keiner da!«

»Ja, aber ich will vorher noch hier putzen, dann habe ich das von der Backe«, sagte Frank ohne aufzusehen.

»Ich wollte das Zimmer von dem Heinz-Rüdiger weitermachen.«

»Schon klar.«

»Bin nur halb fertig geworden gestern, war schwierig ohne Tapetentisch.«

»Verstehe.«

»Hatten wir zersägt, dumme Geschichte.«

»Ich weiß.«

»Ist schon offen?«

In der Tür, die Frank offengelassen hatte, weil im Café Einfall ein ziemlicher Hecht aus schalem, saurem Bier, kaltem Zigarettenrauch und allgemeinem Menschenmief in der Luft stand, war ein Mann um die dreißig und schaute s