: Hasso Grabner
: Fünfzehn Schritte gradaus Gedichte
: EDITION digital
: 9783965213029
: 1
: CHF 4.00
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: Lyrik
: German
: 80
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Als die ersten der hier abgedruckten Gedichte entstanden, hatte ich ein Vierteljahrhundert meines Lebens hinter mir. Sehr freundlich sind sie nicht gewesen, diese fünfundzwanzig Jahre, obwohl ich sie heute nicht missen möchte. Lehrten sie mich doch, dass eine Heimnäherin für ein Dutzend Sommerkleider vier Mark und sechzig Pfennig Nählohn bekam, wovon sie auch noch den Zwirn bezahlen musste. Länger als zwei Tage brauchte man dafür nicht, den Tag zu zwölf Stunden gerechnet. Währenddessen erholten sich die Damen der Stadt für etwa die gleiche bescheidene Summe auf der Felsche-Terrasse. War das nicht lehrreich? War es nicht leicht begreifbar, dass man etwas gegen das Unrecht tun musste? In der Arbeiterjugend und von 1929 an im Kommunistischen Jugendverband tat ich es denn. Die Nazis erzwangen im Buch unseres Lebens einen neuen Abschnitt, einen Punkt aber konnten sie nicht setzen. Dafür setzten sie uns ins Zuchthaus, und da die gesiebte Luft Waldheims der roten Bazillen offensichtlich nicht Herr wurde, verschafften sie uns noch die rauere des Totenberges bei Weimar und eine Nachkur im Strafbataillon 999.' Unter diesen Bedingungen entstanden die ersten drei Teile des vorliegenden Bändchens, als Gegengift sozusagen. Die im Zuchthaus geschriebenen Gedichte mussten der Zensur und dem Blubo-geschärften Blick des Zensors standhalten. 'Purpurne Bänder' waren schon sehr gewagt. Im Lager schrieb man sich nichts auf, das wäre noch gewagter gewesen. Manches davon habe ich auswendig gelernt, manche Bruchstücke später rekonstruiert. In den Schreibstuben der 999er Einheiten gab es auch genug Knechte. Die Lust am gebundenen Wort und am Reim konnte aber niemand totzensieren. Die Gedichte des 'Neuen Lebens' sprechen - hoffe ich - für sich selbst. Auch ihre Inhalte durfte ich erleben. H.G.

Am 21.10.1911 in Leipzig geboren, Besuch der Mittelschule, Lehre als Buchhändler. 1929 Mitglied des KJVD, 1930 KPD-Mitglied. 1934 wurde er wegen der Teilnahme am antifaschistischen Widerstandskampf verhaftet und blieb bis 1938 im Zuchthaus Waldheim, danach bis 1940 KZ Buchenwald. 1942 kam er ins Strafbataillon 999. U. a. war er auf Korfu stationiert und arbeitete als Funker in Karousades. Dort half er griechischen Partisanen und warnte die Juden vor der Deportation. Er konnte der Erschießung entgehen, setzte sich in Sarajevo von der Truppe ab und kehrte über Österreich nach Leipzig zurück. Er beteiligte sich am Aufbau der Jugendausschüsse und der FDJ und wurde 1946 SED-Mitglied. Er hatte wechselnde Tätigkeiten: Intendant des Mitteldeutschen Rundfunks, Regierungsrat in Sachsen, Hauptdirektor der VESTA (Vereinigung Volkseigener Stahlwerke), Werkleiter im VEB Guss Köthen, Leiter des Aufbaustabes des Kombinats Schwarze Pumpe, Personalchef im Konstruktions- und Ingenieurbüro Leipzig. Von 1955 bis 1957 absolvierte er ein Fernstudium am Literaturinstitut 'Johannes R. Becher' und war seit 1958 freischaffender Schriftsteller. Grabner wurde mehrmals mit Parteistrafen belegt, seit 1961 vom MfS überwacht und erhielt nach dem 11. Plenum 1965 ein vorübergehendes Berufsverbot. Er war in zweiter Ehe mit der Schriftstellerin Sigrid Grabner verheiratet. Er starb am 3. April 1976 in Werder.
Essenausgabe Täglich sind sie am Stacheldraht zum Essenfassen. Links ein Kamerad, rechts ein Kamerad, und sie lassen einen dritten in ihrer Mitten nicht allein. Aber während sie bitten, es möge nicht zu wenig sein von der schönen Suppe, mischt der sich nicht ein, als sei es ihm schnuppe, ob er sie frisst, weil es ja doch nur Kohlrübenwasserbrühe ist, was sie hier kochen. Wenn sie sich dann zum Gehen wenden, ihre drei Näpfe in den Händen, schleift er so merkwürdig seine Knochen hinterher. Aber den Napf hält er ganz fest, wie jemand die Zügel führt, er scheint ihm weder heiß zu sein noch schwer. Er hatte auch keine Miene gerührt und nicht gestöhnt, als ihm der Kalfakter die heiße Brühe über den Daumen spülte, als ob er nichts fühlte. Wahrscheinlich ist er Gießer, so einer gewöhnt sich mit einiger Mühe und nach einiger Zeit an das Heiße, konnte man denken. Doch dieser erwarb sich die Unempfindlichkeit auf andere Weise. Vor einigen vierzehn Tagen hörten die Zwei den dritten sagen: 'Ich werde sterben', und haben dazu genickt. Anderswo ist das sicherlich ungeschickt und ohne Pietät. Aber hier war es schon ein Trösten, nicht zu widersprechen, wenn einer weiß, dass er in der Erlösten Ruhe eingeht, denn was kann er hier schon noch erben? Und außerdem dachte von beiden jeder: Ich auch, nur etwas später. So lehrte sie die Erfahrung. Und das schwiegen sie sich ins Gesicht, denn die Stimmbänder brauchen auch ein wenig Nahrung, und die hatten sie nicht. Dann begann der dritte wieder: 'Tote haben steife Glieder, aber mit glasigen Augen haben sie keine Ruh, bitte drückt mir die Augen zu.' Die beiden senkten die Lider zu einem 'So sei es'. 'Und noch eins', sprach die Stimme, 'Maria, verzeih es! Gebt mir den Essnapf in die Hand, solange sie warm ist, ganz fest, den Daumen über den Rand, die Finger an den Boden gepresst, und dann winkelt den Unterarm empor, haltet ihn, dass er sich nicht bewegt, so eben!' Dann spielt er ihnen die Szene vor, wie einer einen Essnapf trägt, sein erstes Theaterspiel im Leben. 'Legt mich in die Ecke im Zelte. Und seid nicht bange, bei dieser Kälte halte ich mich lange. Bei der Essenausgabe nehmt ihr mich dann, aber ihr dürft mich nicht fallen lassen, und einer sagt: Essen für drei Mann. So kann ich jeden Tag für euch einen Schlag mit fassen.' Und als er so spricht, steht in seinen Augen beinah ein Rausch, in dem vergnügliche Lichter zucken. Aber die andern wissen nicht wohin mit dem Schlucken. Jetzt schien ihnen doch der Tod zu frühe und ein allzu verzweifeltes Stück der Tausch, der ihnen hier empfohlen: Tägliches Entsetzen gegen Kohlrübenwasserbrühe. Aber der, der ihnen mehr als das letzte Hemd anbot, legte den Kopf zurück. 'Grüßt Polen' und war tot, als müsst es so sein. Täglich sind sie am Stacheldraht, dem dornigen Gitter. Links ein Kamerad, rechts ein Kamerad, aber ein Dritter lässt sie nicht allein. KZ Buchenwald, Februar 1940 Appellplatz Buchenwald Marsch durch den Lehm und Takt, Kameraden, und wenn uns der Dreck in die Stiefel läuft. Haben wir Buchenwald-Soldaten andere Dinge schon in uns ersäuft. Seitenrichtung und links, Kameraden, Tuchfühlung ist viel mehr als ein Wort. Alles Zaudern und alle Taten pflanzen sich in der Tuchfühlung fort. Die Augen links! Durchzähln, Kameraden! Zahl ist Masse, und Masse ist Schritt. Vor die Weltgeschichte geladen zählt die Masse zum Wollen mit. Arbeitskommando weg! Kameraden - Arbeitskommando am großen Ziel. Marsch, ihr Buchenwald-Soldaten! Zehn für einen jeden, der fiel! KZ Buchenwald, März 1940 Für Rudi Arndt Der eben an uns vorbeiging, das war ein Mensch wie wir. Man trug ihn auf einer Bahre hinunter ins Revier. Die Träger wussten beide, der macht nicht mehr lange mit. Es lag ein letzter Freundschaftsdienst in ihrem leisen Schritt. Ihm brennen zwei Kugeln im Rücken und eine in der Brust. Er hat, dass er heute sterben muss, gestern schon gewusst. Viel Tränen seh ich rinnen, sie sind Gebet und Fluch. Sie weben dem Kameraden ein leuchtendes Leichentuch. KZ Buchenwald, Mai 1940