Dresden, 31. August 1959, Nachmittag
»Max, schau mal!«, begrüßte Karin ihn, als er die Küche betrat. Sie stand gerade am Herd und deutete über die Schulter zum Esstisch.
Heller stellte seine Tasche ab und gab seiner Frau einen Kuss.
»Wo ist Anni?«, fragte er und beugte sich dann über mehrere Briefe, die aufgefaltet auf dem Tisch lagen.
»Sie ist Schulhefte kaufen, mit Vera und Martina.«
Martina war das Mädchen der Seiberts, der neuen Nachbarn, die ins Haus vom alten Meyer gezogen waren, nachdem dieser vor über einem Jahr gestorben war. Einer seiner Angehörigen hatte ihn in seinem Sessel sitzend vorgefunden, mit den Pantoffeln an, einem Glas Bier neben sich auf dem Tisch und einem leise dudelnden Radio. Es hatte ausgesehen, als schliefe er. Heller, den man aufgeregt dazugeholt hatte, hatte nur noch den Tod feststellen können. Kein schlechter Tod, hatte er sich damals gedacht, mit weit über siebzig mit einem leisen Lächeln im Gesicht einfach so von der Welt gehen zu können.
»Fällt dir etwas auf?«, fragte Karin und wischte sich die Hände an der Schürze ab.
»Ja, Erwin hat geschrieben.« Heller hatte sich schon zur Hälfte in den Brief eingelesen. Es wurde Zeit, dachte er bei sich. Der Abstand zwischen diesem und dem letzten Brief war ungewöhnlich groß gewesen.
Karin sagte nichts, aber schaute ihn ungeduldig an. Er blickte kurz fragend auf, aber nahm sich Zeit, weiterzulesen und den Brief dann zu den anderen dazuzulegen. Erwin hatte nichts Ungewöhnliches geschrieben. Es ging allen gut und er zog offenbar in Erwägung, bei seiner Kanzlei zu kündigen und sich als Anwalt selbstständig zu machen. Heller musste insgeheim den Kopf schütteln. Mit welchen Problemen sich sein Sohn da auseinanderzusetzen hatte, das war so weit weg von dem, was sie hier tagtäglich beschäftigte. Weit weg waren auch Erwin und sein Leben in Westdeutschland. Obwohl sie sich regelmäßig schrieben und Fotos schickten. Seine Frau Monika war wieder schwanger und stand kurz vor der Entbindung, hatte Heller gelesen. Erwin hatte mit seiner Familie in Köln wirklichen Ersatz für seine Familie in Dresden gefunden. Auf den Fotos stand er immer lachend in deren Mitte.
Heller nahm jetzt den nächsten Brief, den ihm Karin hinhielt. Er betrachtete das Schreiben sorgfältig, suchte in der Schrift seines Sohnes nach einer Veränderung, in den Worten irgendeine Botschaft, die er vielleicht nicht verstanden hatte. Schließlich gab er auf.
»Was soll denn sein, Karin? Was ist mit den Briefen?« Er sah sie verwundert an.
»Aber, Max, du bist doch hier der Kriminalpolizist«, spöttelte sie und legte ihm liebevoll die Hand in den Nacken. Dennoch war Heller der resignierte Zug um ihren Mund nicht entgangen.
Erneut widmete Heller seine Aufmerksamkeit dem Brief. Wenn er wüsste, wonach er suchen sollte, wäre es einfacher. Doch Karin hatte ihn bei seiner Ehre gepackt. Es musste ja einen Grund geben, warum sie ihm die letzten sieben Briefe von Erwin hingelegt hatte, chronologisch nach ihrem Eingang sortiert. Einen nach dem anderen betrachtete er aufmerksam, drehte und wendete sie. Und dann bemerkte er es plötzlich.
Er blickte hoch. »Weißt du es schon länger? Oder habt ihr euch das gemeinsam ausgedacht?«, fragte er Karin.
»Dass er die Briefe auf diese Art durchnummeriert? Nein, das ist mir gerade erst aufgefallen. Er macht es ja recht geschickt.«
Heller nickte. Er hatte bisher nie besonders auf das Datum geachtet, das Erwin immer oben rechts auf der ersten