Der Gefangene
Er saß auf dem nackten Boden, die Beine im Schneidersitz verschränkt, die Arme schlaff im Schoß. Doch sein Rücken war durchgedrückt und sein Blick stolz erhoben. Seine Augen blitzten zornig. Es war, als züngle eine Flamme in diesen tiefschwarzen Augen, die so bodenlos schienen, dass sie nur selten verrieten, was auf dem Grund der verborgenen Seele dieses jung erscheinenden Mannes vor sich ging.
Vielleicht war es aber auch nur der Widerschein der letzten Sonnenstrahlen am fast blauen Dezemberhimmel über Paris, der von Orange nun in verblassendes Rosa überging.
Er rechnete nach. Es waren nur noch wenige Tage bis Weihnachten.
Léon war nicht von klassischer Schönheit, dazu war sein Gesicht zu kantig und seine Miene meist zu ernst. Dennoch war er ein Mann, dessen Anblick man nicht so schnell vergas. Er war groß, dabei von schlanker Gestalt, von der sehnigen Art gut trainierter Ausdauersportler. Seine Haut war jedoch nicht sonnengebräunt wie die eines Sportlers, sondern fast durchscheinend blass. Vor allem sein blasses Gesicht stand in hartem Kontrast zu seinem schwarzen Haar, den dichten Brauen und dunklen Wimpern und natürlich den Augen, in denen Wut loderte. Er würde nicht aufgeben. Niemals!
Und doch hätten die, die ihn kannten, eine erschreckende Schwäche in seinem Blick bemerkt, die sie bei ihm nicht für möglich gehalten hätten. Wer jedoch konnte von sich schon behaupten, den geheimnisvollen Mann zu kennen, der so alterslos schien und von dem niemand genau wusste, woher er kam und seit wann er in den Katakomben von Paris lebte, die sich in mehreren Ebenen über Hunderte Kilometer in einem Gewirr aus Gängen und Kavernen im Norden und vor allem im Süden unterhalb der Stadt erstreckten.
Eine Familie hatte er schon lange nicht mehr – und Freunde? Die Kataphilen und anderes lichtscheues Gesindel, das sich unter der Stadt herumtrieb, zählte er ganz sicher nicht zu seinen Freunden.
Für einen Moment zogen die Gesichter der Menschen durch seinen Geist, die ihm etwas bedeuteten. Es waren nicht viele: Am ehesten würde er Jannine als eine Freundin bezeichnen, das katzenhafte Mädchen, das über eine wunderbare Magie verfügte und vermutlich die geschickteste Diebin aller Zeiten war. Sie und ihr Bruder Marcell, der liebenswerte große Junge, der seit Jahren kein Wort mehr gesprochen hatte, waren so etwas wie Freunde für ihn geworden.
Ein anderes Gesicht verdrängte die Geschwister. Ein Gesicht, das nicht in seine Welt passte. Sie war ein Kind des Lichts. Er sah ihr schmales, sonnengebräuntes Gesicht vor sich, umrahmt von goldenen Locken, in denen sich das Sonnenlicht verfing. Sie war eine Schönheit und sie passte ganz sicher nicht in seine lichtlose Welt.
Er versuchte sich einzureden, dass ihn das nicht kümmerte. Dass sie nur irgendein Mädchen war, ein nettes Gesicht, ein oberflächliches Wesen, das ihm nichts bedeutete, doch das wollte ihm nicht gelingen.
Es war nicht fair, ihr das anzutun. Sie gehörte an die Oberfläche. Oberflächlich war sie jedoch ganz sicher nicht. Sie war eine mutige Kämpferin mit einem großen Herzen. Was hatte sie nicht alles auf sich genommen, weil sie ihn retten wollte?
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