: Daniel Glattauer
: Geschenkt Roman
: Deuticke im Paul Zsolnay Verlag
: 9783552062719
: 1
: CHF 8.10
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 336
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Gerold Plassek ist Journalist bei einer Gratiszeitung. Bei ihm im Büro sitzt der 14-jährige Manuel, dessen Mutter im Ausland arbeitet. Er beobachtet Gerold beim Nichtstun und ahnt nicht, dass dieser Versager sein Vater ist. Gerold fehlt jeder Antrieb, die Stammkneipe ist sein Wohnzimmer und der Alkohol sein verlässlichster Freund. Plötzlich kommt Bewegung in sein Leben: Nach dem Erscheinen seines Artikels über eine überfüllte Obdachlosenschlafstätte trifft dort eine anonyme Geldspende ein. Das ist der Beginn einer Serie von Wohltaten, durch die Gerold immer mehr in den Blickpunkt der Öffentlichkeit rückt. Und langsam beginnt auch Manuel, ihn zu mögen ... - Ein so spannender wie anrührender Roman, der auf einer wahren Begebenheit beruht.

Daniel Glattauer, geboren 1960 in Wien, Bücher (u. a.): Die Ameisenzählung (2001), Darum (2003), Der Weihnachtshund (Neuausgabe 2004), Theo (2010), Mama, jetzt nicht! (2011), Ewig Dein (2012), Geschenkt (2014). Mit seinen Romanen Gut gegen Nordwind (2006) und Alle sieben Wellen (2009) schrieb er Bestseller, die auf der ganzen Welt gelesen werden. Die Komödie Die Wunderübung (2014) ist als Buch, am Theater und als Film sehr erfolgreich. Auf der Bühne sind auch die Komödien Vier Stern Stunden und Die Liebe Geld zu sehen. Und 2019 kam die Verfilmung von Gut gegen Nordwind ins Kino. Zuletzt erschien der Roman Die spürst du nicht (2023).

KAPITEL EINS


Manuel


Meinen Sohn hätte ich mir anders vorgestellt. Ich blickte manchmal vom Bildschirm auf und tat so, als würde ich nachdenken. Eigentlich beobachtete ich aber Manuel– nämlich dabei, wie er sich unbeobachtet fühlte, und er sah gar nicht souverän dabei aus. Ich hielt es offen gestanden für eine Zumutung, dass er Manuel hieß, eine Zumutung ihm und mir gegenüber. Warum hatte man mich nicht gefragt? Ich hätte Manuel nicht zugelassen, ich hätte Manuel verhindert, Manuel, den Namen, jedenfalls. Manuel, den Menschen… was soll ich sagen, das war eben höheres Schicksal. Mein Schicksal war regelmäßig eine Spur zu hoch für mich. Okay, wenn es wenigstens jemals oben geblieben wäre. Aber nein, irgendwann kam jedes meiner höheren Schicksale zu mir herunter und sagte»Guten Tag«. In diesem Fall in Form meines vierzehnjährigen Sohnes.

 

Der zehnte Tag mit Manuel an meiner Seite verlief unspektakulär, wie beinahe alle Montage in diesem Jahr. Dienstage eigentlich auch. An Mittwochen nahm ich mir oft frei, und der Rest der Woche verging irgendwie automatisch. Die Bedeutung dieses Montags erschloss sich mir erst sehr viel später, und da habe ich durchaus Hochachtung vor meinem dreiundvierzig Jahre alten und von Alkohol empfindlich getrübten Gedächtnis, dass es in der Lage war, im Nachhinein so viele Bilder und O-Töne zusammenzutragen, die meisten von meinem Sohn, der bei mir im Büro saß und Schulaufgaben machte oder zumindest so tat.

»Und, kommst du zurecht?«, fragte ich.

»Warum soll ich nicht zurechtkommen?«

Vielleicht waren alle vierzehnjährigen Vollpubertären mit Graswuchsüber der Oberlippe und einer Stimmlage zwischen unsachgemäß bedienter Violine und vergammeltem Bass so abweisend, keine Ahnung, mich nervte es jedenfalls.

»Ich will nicht wissen, warum du nicht zurechtkommen sollst, ich will wissen, ob du zurechtkommst oder nicht«, erwiderte ich.

»Wer hat behauptet, dass du wissen willst, warum ich nicht zurechtkommen soll?«, fragte er.

Er fragte es deshalb, weil er wusste, dass ich mich auf so eine stumpfsinnige Diskussion sicher nicht einlassen würde und dass unser Dialog damit beendet war. Eines der Probleme in meiner noch ziemlich neuen Beziehung zu meinem Sohn war nämlich, dass mich Manuel nicht ausstehen konnte. Das erklärte auch all die trüben, leeren undüber der Gähngrenze gelangweilten Blicke, mit denen er mich nun schon die zweite Woche bedachte. Sie spiegelten nur wider, was er sah: mich. Hätte er gewusst, dass ich sein Vater war, hätte er mich zwar wahrscheinlich auch nicht gemocht, aber er wäre vielleicht gnädiger zu mir gewesen.

Nein, er wusste es nicht. Und ich wusste es offen gestanden auch erst seit wenigen Wochen.

Alice


Im Frühsommer hatte mich Alice angerufen und bedauert, dass wirüberhaupt keinen Kontakt mehr hatten. Ob wir uns nicht wieder mal treffen wollten, sie hätte jede Menge Neuigkeiten. Mit Alice hatte ich eigentlich nicht mehr gerechnet. Mit Tanja, mit Kathi, mit Brigitte, vielleicht mit Corinna, ja eventuell sogar mit Sonja, aber nicht mit Alice. Ich hätte auch niemals gedacht, dass es ihr noch in diesem Leben leid tun könnte, keinen Kontakt mehr zu mir zu haben, nach ihrem damaligen Abgang, aber so konnte man sich in den Menschen täuschen, in den Frauen sowieso, da war ich gewissermaßen ein Naturtalent.

»Ja, sicher, treffen wir uns, gerne. Wo?«, fragte ich.

»Am besten bei mir«, sagte sie.

Am besten bei mir. Diese Worteübten eine ziemliche Faszination auf mich aus, und wenn Männer es schaffen, hier nicht in eine ganz bestimmte Richtung zu denken, noch dazu im Frühsommer, in dem sieüberdies gerade ungebunden sind, dann herzlichen Glückwunsch. Ich schaffte es jedenfalls nicht. Um die drei Tage bis zu der Verabredung zuüberbrücken, kramte ich die alten Fotos von Alice hervor, von unserem Wochenende in Hamburg, und ich hoffte, dass sie nicht mehr als ein halbes Kilo pro Jahr zugenommen hatte. Mit siebeneinhalb Kilo mehr könnte ich leben.

Wir hattenübrigens nur dieses einzige Hamburg-Wochenende gemeinsam verbracht, denn ich war damals noch mit Gudrun verheiratet gewesen, und Gudrun war im ungefähr siebenten Monat schwanger mit Florentina, was Alice beim Rückflug aus Hamburg zu meinem Leidwesen spitzgekriegt hatte, weil ich immer dann, wenn ich Angst habe, sozusagen ein offenes Buch bin. Und ich habe beträchtliche Flugangst. Ich kann niemandem verübeln, falls er jetzt denkt, dass ich ein Riesenarschloch war oder sogar noch bin, aber es ist eben nicht immer alles so, wie es aussieht, selbst wenn es verdammt danach aussieht. Doch zurück zum Wiedersehen mit Alice.

Eigentlich genügten mir die paar Sekunden an der Türschwelle, um zu erkennen, dass ich mich umsonst rasiert hatte. Ich brauche jetzt also gar nicht groß zu schildern, wie phantastisch man fünfzehn Jahre später noch immer aussehen konnte und wie gut es einem zu Gesicht stand, wenn man schnurgerade seinen Weg gegangen war, weil das im Fall Alice für mich leiderüberhaupt keine Rolle mehr spielte, da ich keine Rolle mehr für sie spielte. Sie hatte Medizin fertig studiert und arbeitete bei so was wieÄrzte ohne Grenzen, nur insofern dann doch begrenzt, als die ausschließlich Projekte in Afrika betreuten. Und Alice war gerade auf dem Sprung nach Somalia, wo sie ab September ein halbes Jahr lang einen neuen Stützpunkt aufbauen sollte. Das musste sie ausgerechnet mir, den sie nach einer Wochenend-Affäre vor fünfzehn Jahren zum Teufel geschickt hatte, ganz dringend berichten. Ich wusste nur noch nicht, warum.

»Und, Geri, was machst du so?«, fragte sie.

Das war doppelt beleidigend.Geri hieß, dass ich in ihren Augen für Gerold noch immer nicht reif genug war. Undwas machst du so klang ganz danach, dass sie mir nicht zutraute, etwas mehr als nurs