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Luxustrauer
Ich wäre gerne viel öfter traurig.
Ich meine die Traurigkeit, wie man sie auch aus der Populärkultur kennt. Aus Filmen, Serien und Büchern. Bei der jemand verzweifelt alles aus sich rausheult. Bei der es jemanden grässlich sticht in der Herzgegend. Bei der man sofort begreift: Dieser Mensch ist traurig, und man weiß auch, warum.
Eine situative, komprimierte Traurigkeit mit konkretem Anlass – so eine Traurigkeit würde ich gerne öfter empfinden.
Ich würde gerne öfter eine Stunde lang auf meiner Couch vor mich hin weinen und vielleicht dabei melancholische Popsongs wie »Funeral« von Phoebe Bridgers oder »This Life« von Vampire Weekend hören. Oder auch nachts im Bett liegen, über den Verlust unserer Tochter nachdenken und irgendwann unter Tränen einschlafen. Und doch gelingt mir das höchstens zweimal im Jahr.
Für mich ist eine zielgerichtete und zeitlich begrenzte Trauer ein seltener Glücksfall. Ein Erfolg meiner Trauerarbeit. Dann ist meine Trauer isoliert, dann habe ich sie im Griff. Dann liefert sie eine unmittelbare Katharsis und endet in erlösender Erschöpfung. Und dann geht es mir für kurze Zeit tatsächlich besser.
Das ist die Luxustrauer. Das ist nicht die Trauer, die mir im Alltag zu schaffen macht. Die mich lähmt und belastet. Die ich überwinden muss, um in Kontakt mit meinem Sohn, meiner restlichen Familie, meinem Umfeld und mir selbst zu bleiben. Die Luxustrauer ist eine willkommene Auszeit. Während sie anhält, muss ich nichts machen, ich kann einfach nur traurig sein. Die alltägliche Trauer ist tückischer, auf keinen Moment festlegbar, sie schleicht sich in alle Vorgänge und Gedanken. Um sie geht es in diesem Buch.
Mit dieser Trauer muss ich die meiste Zeit leben. Oft erkenne ich sie nicht mal auf den ersten Blick als Trauer. Sie erschöpft mich und höhlt mich wie eine chronische Erkältung aus. Sie tritt als Angespanntheit und Wut in Erscheinung, als scheinbar grundloser Frust und Defätismus. Als Müdigkeit, die sich bemerkbar macht, wenn ich mit meinem Sohn für die Klassenarbeit Bruchrechnen lerne und ungehalten auf seine falschen Antworten reagiere oder existenziell mit meiner Freundin streite, selbst wenn es dabei nur um die Konsistenz von Porridge geht. Wenn ich Fahrradfahrer anschreie, die mir die Vorfahrt nehmen. Wenn ich manchmal mitten am Tag erschöpft auf der Couch einschlafe, obwohl ich eigentlich früh im Bett war. Wenn mir Konflikte buchstäblich auf den Magen schlagen und womöglich den kleinen Riss in meiner Speiseröhre verschlimmern. Wenn mein Zahnfleisch auch mit der neuen Krone nicht aufhört zu schmerzen. Wenn ich in Stresssituationen plötzlich dieses Pfeifen im Ohr habe.
Das ist die Art von Trauer, die ich gerne wieder loswerden will. Die ich unbeschadet überstehen will, auch wenn es dafür vermutlich zu spät ist.
Der argentinische Autor und Psychiater Jorge Bucay schreibt in seinemBuch der Trauer:
Ich habe den Eindruck, das Geheimnis, mit unseren Verlusten zurechtzukommen, besteht genau darin, dass wir uns dazu durchringen, die Trauer auszuhalten, sie als Teil des Weges zu verstehen (…).1
In diesem Buch möchte ich beschreiben, was ich unternommen habe, um die Auswirkungen von Trauer auf mein Leben zu erfassen und in Schach zu halten. Doch ein Teil dieses Wegs besteht nach wie vor im geduldigen Aushalten eines Zustands. Oder um es weniger passiv zu formulieren: im Beobachten, wie sich dieser Zustand langsam verändert. Manchmal über Jahre hinweg.
Bucay schreibt auch, Trauer sei keine Krankheit, sondern »ein Prozess, der zur Überwindung