: Hilal Sezgin
: Landleben Von einer, die raus zog
: DuMont Buchverlag
: 9783832185558
: 1
: CHF 6.50
:
: Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
: German
: 272
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Früher war Hilal Sezgin eine Stubenhockerin: Großstadt, Bürojob, am Wochenende schlief sie gerne aus. Heute hat sie nicht nur gülleresistente Stiefel, sondern auch Schafe, Ziegen, Gänse, Hühner und Katzen. Und vor allem: ein Haus auf dem Land. Sie nimmt den Leser mit auf ihre ganz persönliche Reise ins Glück. Sie berichtet von den erhofften Vorzügen und den unerwarteten Problemen des Landlebens; angefangen bei der Suche nach dem perfekten Haus über den Bau von Stallungen und das Einmachen von Obst bis hin zur korrekten Tierhaltung. Dem Verzicht auf gewohnte Bequemlichkeiten steht eine neue Form von Selbstbestimmung gegenüber. Aus dem »Leben ohne« ist vor allem ein »Leben mit« geworden: »Ein Leben mit weitem Blick aus allen Fenstern, ein Leben mit den Jahreszeiten, ein Leben mit Tieren, ein Leben mit Schnee im Winter, Kuckucksrufen im Frühjahr, Faulenzen im eigenen Garten im Sommer und Pilzsammel- und Einkochorgien im Herbst.«

Hilal Sezgin, geboren 1970 in Frankfurt am Main, studierte Philosophie sowie Soziologie und Germanistik und ein bisschen Biologie; M.A. 1995. Sie begann 1996 als Praktikantin und freie Mitarbeiterin beim Hessischen Rundfunk und arbeitete ab 1999 sieben Jahre lang im Feuilleton der Frankfurter Rundschau. 2007 zog Sezgin in die Lüneburger Heide, um mehr Bücher zu schreiben. Seither arbeitet sie als freie Autorin für viele Medien, z. B. die taz, Frankfurter Rundschau, Berliner Zeitung, DIE ZEIT, ze
ODE AN DIE BRENNNESSEL (S. 90-91)

Auch wenn man noch den Nachhall jenes Lebens vernimmt, von dem Dorle erzählte: Man kann dieses Leben nicht wiederherstellen– jedenfalls nicht, wenn man noch einen anderen, eigentlichen Beruf hat. Denn Dorles Arbeit in den Gärten und zu Hause war ja nicht Hobby, sondern tagesfüllende Arbeit; mit ein wenig Harken und Einkochen am Feierabend ist es nicht getan.

Es gibt wenige Menschen, die aus unserem heutigen System der Sicherheit, des Komforts und des Konsums so sehr aussteigen wollen, dass sie sich selbst versorgen können wie einst Dorle ihren Haushalt. Und dennoch finde ich, dass auch wir anderen ein Recht darauf haben, ein wenig von diesem jahreszeitlichen Rhythmus, von dem Stolz (und der Plage) des Selbermachens in unser tägliches Leben zu holen. Wir können das Frühere nicht nachmachen, nicht nachspielen, aber ihm doch immerhin nachspüren.

Dabei sind es manchmal ganz unerwartete Momente, in denen man merkt, dass man Berührung mit einer Praxis hat, die vielen früheren Generationen von Menschen gemeinsam war. Beim Ernten oder Sammeln von Früchten kann man dies beobachten; oder als ich mir, wie beschrieben, die beiden Lämmer unter die Arme klemmte. Mit beinah absurder Freude erfüllt es mich auch, wenn Christian im Sommer einen Wagen voller Strohballen zu mir herunterschickt.

Seit dem ersten Ausmisten liegt mir der Gedanke an das jeweils nächste Ausmisten des Schafstalls wie ein Stein im Magen, aber sobald der große Anhänger mit zehn, zwölf großen runden gelben Ballen vor der Kartoffelscheune steht, freue ich mich auf dieses frische Stroh, als wollte ich später selbst darin liegen (was sich sicher vor allem kratzig anfühlt). Und wie viel schöner noch sind die Heuballen, die also nicht bloß als Einstreu, sondern als Winterfutter dienen!

Als ich zum ersten Mal eine Lieferung von 500 kleinen Heuballen erhielt, wurde daraus genau so eine Gemeinschaftsaktion wie die von Dorle geschilderten Arbeiten im Jahresverlauf. Meine Freundinnen Katharina, Charlotte und ich hatten eine Kette gebildet; vom Wagen warf uns ein Arbeiter die Ballen mit einer großen Heugabel herüber. Hin und wieder machte er sich auch einen Spaß daraus, uns mit den Heuballen zu bewerfen, und wir fielen um wie die Kegel. Wir stapelten die Ballen in mehreren Lagenübereinander, sodass kleine Lücken blieben, damit das frische Heu noch weiter trocknen konnte.