: Jack Ketchum
: Lebendig Roman
: Heyne
: 9783641124489
: 1
: CHF 7.20
:
: Horror
: German
: 224
: DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
»Ihr erster Gedanke war, dass man sie lebendig begraben hatte. Dass sie sich in einem Sarg befand. Unter ihrem Rücken spürte sie Holz, und dicke Bretter auch zu ihrer Linken und zu ihrer Rechten, so nah, dass sie gerade noch den Arm heben konnte, um zu erfühlen, dass auch über ihr Holz war. Nie zuvor hatte sie Angst vor engen Räumen gehabt. Doch dieser Raum machte ihr große Angst.«

Jack Ketchum ist das Pseudonym des ehemaligen Schauspielers, Lehrers, Literaturagenten und Holzverkäufers Dallas Mayr. Er gilt heute als einer der absoluten Meister des Horror-Genres. 2011 wurde er zum Grand Master der World Horror Convention ernannt. Er erhielt fünfmal den Bram Stoker Award, sowie 2015 den Lifetime Achievement Award der Horror Writers Association. Jack Ketchum verstarb am 24. Januar 2018 in New York City, New York.

1

New York City·8. Juni 1998·10.20 Uhr

Schweigend fuhren sie zur Klinik.

Sie hatten alles am Abend zuvor besprochen. Jetzt gab es nichts mehr zu sagen.

Es musste nur noch getan werden. Sie mussten es nur noch hinter sich bringen.

Die morgendliche Rushhour war seit einer Stunde vorüber, und der Verkehr floss ziemlich zügig. Die Straßen der Upper West Side waren seltsam ruhig, wie in einem Traum. Der blaugrüne Toyota-Lieferwagen vor ihnen rollte von Ampel zu Ampel wie ein Lotse, der sie von einem Nirgendwo zu einem anderen Nirgendwo brachte und dem sie ohne eigentliches Ziel folgten.

Wir sind völlig am Ende,dachte Greg.Wir beide.

In der Stille dachte er daran, wie sie letzte Nacht in ihrer Wohnung im Bett gelegen hatten, wie sie sich geliebt hatten– unter Tränen, die mit der sanften, quälenden Regelmäßigkeit der Wellen bei Ebbe gekommen und wieder versiegt waren. Selbst ihre Herzschläge hatten sie kaum gehört, und sie waren enger beisammen gewesen, als sie es sich je träumen lassen oder für möglich gehalten hätten, verbunden im bitteren, traurigen Bewusstsein, dass diese Freude jetzt und für eine lange Zeit auch Schmerz bedeuten würde. Ihre kühlen Tränen hatten sich auf seiner Wange mit seinen eigenen vermischt, und er hatte ihren herben Duft gerochen und gespürt, wie sie auf seine Brust gefallen waren, als sie rittlings auf ihm gesessen hatte wie ein Schiff auf windstiller See. Danach hatte sie die lange dunkle Nacht in einen warmen, unruhigen Schlaf gehüllt.

Genauso schweigend hatten sie die lärmenden Morgenrituale– Wasser, Rasierer, Zahnbürste– hinter sich gebracht. Er und Sara waren mit dieser Sache allein, so allein, wie man nur sein konnte. Wortlos hatten sie am Frühstückstisch Kaffee getrunken. Greg hatte seinen Armüber das glatte Kiefernholz hinweg ausgestreckt, um einen Augenblick lang ihre Hand zu nehmen, noch einmal ihre Wärme zu spüren, noch einmal eine Verbindung zwischen ihnen herzustellen, bevor sie durch die Haustür in die kühle, grelle Morgenluft traten. Vorbei an den geschäftigen New Yorkern an der Ecke 91st und West End Avenue, vorbei an Autos und Taxis und Lieferwagen. Dann in die noch kühlere, hallende Tiefgarage nebenan. Greg warüber den Broadway nach Downtown gefahren. Das Rad der Zeit hatte sich gedreht, sie unweigerlich an diesen schrecklichen, leeren Ort geführt. Sie in diese Stille, diese völlige emotionale Erschöpfung getrieben.

»Alles in Ordnung?«, fragte er schließlich.

Sie nickte.

Es war nicht mehr weit bis zur Klinik– 68th Ecke Broadway, nur fünf Straßen entfernt. Der einzigen ihrer Art, die auf der gesamten West Side vom Village bis zur Bronx nochübrig war. Die anderen beiden Kliniken hatten dichtgemacht.

»Es ist ein Mädchen«, sagte sie.

Diese Feststellung– und nicht seine Frage– hatte die Stille endgültig durchbrochen.

»Woher willst du das wissen?«

»Ich weiß es einfach. Ich weiß noch, wie sich Daniel angefühlt hat, selbst in diesem frühen Stadium. Und diesmal… fühlt es sich anders an.«

Eine schwere, drückende Last legte sich auf ihn. Er hatte die Geschichte in den sechs Jahren, die sie sich nun schon kannten, viele Male gehört, und mit der Zeit und der Entfernung war Sara zu einem tieferen Verständnis und einer allmählich veränderten Wahrnehmung der Ereignisse gelangt. Ihr Sohn Daniel war im Alter von sechs Jahren auf einem zugefrorenen See eingebrochen. Selbst seinen Körper hatte sie verloren– er war unter dem Eis verschwunden und nie gefunden worden.

Wenn es je eine Frau gegeben hatte, mit der er ein Kind– ganz besonders einMädchen– zeugen und hättegroßziehenwollen, dann sie.

Seine schweißnassen Hände umklammerten das Lenkrad.

Das war natürlich völlig undenkbar.

»Warum lässt du mich nicht einfach vor der Klinik raus«, sagte sie,»und suchst einen Parkplatz? Ich kann mich ja schon mal anmelden. Dann müssen wir nicht so lange warten.«

»Wirklich?«

»Lass mich einfach raus. Kein Pro