Unsterblichkeitsimpfung
Seitdem ich mich als Individuum begreifen kann, wird in dieser Stadt geimpft. Viel wird in dieser Stadt geimpft, unbeschreiblich viel. Für mich ist dieser Alltag, unser Impfalltag mittlerweile ein Normalzustand.
Vor 100 Jahren wäre so etwas nicht der Fall gewesen. Während damals noch vor gängigen Krankheiten, wie Hepatitis, Tetanus oder Masern geimpft wurde, so wird heutzutage gegen alle erdenkbaren Krankheiten geimpft.
Es begann mit einem Virus. Vor 50 Jahren, als meine Mutter starb. Zu diesem Zeitpunkt wurde ich erwachsen, im wörtlichen Sinne erwachsen, dass ich mich als Individuum, als ein unabhängiges Individuum begreifen konnte. Mit einem Virus begann der Impfalltag, der zu unserem allseitigen Gesundheitswahn wurde.
Der Tod meiner Mutter kennzeichnete den Wendepunkt in der Mentalitätsgeschichte meiner Stadt. Seit dem Tod meiner Mutter, zeitgleich mit dem Ausbruch der unsäglichen Virus-Pandemie, seit 50 Jahren wird täglich geimpft, gegen alle möglichen Krankheiten wird geimpft.
Seitdem sind die Menschen noch boshafter, beleidigender, diskriminierender, oberflächlicher, sportsüchtiger und gesundheitsliebender als je zuvor.
Seitdem hat sich nichts mehr verändert, seitdem hasse ich insgeheim die Bewohner dieser Stadt und ihren Gesundheitswahn, denn der Alptraum wohnt vor unserer eigenen Haustür, wir betreten ihn täglich mit Mund-Nasen-Schutz-Bedeckung, wenn wir rausgehen.
Der Alptraum ist gleichermaßen oberflächlich geblieben, wie die gesundheitsliebenden Menschen, die in diesem Alptraum leben und nicht akzeptieren können, dass es den Tod gibt, denn sie sehen nur die Gesundheit, aber die eigene Sterblichkeit sehen sie nie.
Täglich wird in dieser Stadt geimpft. Es ist die Stadt, wo nur Ärzte und angehende Ärzte leben.
In Schulen und öffentlichen Einrichtungen gibt es hierfür extra noch Impfpausen. Was für eine Person aus früheren Zeiten unvorstellbar gewesen wäre, ist für uns reiner Alltag, Impfalltag.
Angst haben wir alle davor, krank zu werden.
Krank werden, das ist die größte Aversion, die in unserer Welt herrscht. Die Menschen wollen nicht mehr krank werden. Und das ist zugleich der Grund für die unzähligen Massenimpfungen.
Der Gesundheitswahn begann mit diesem Wunsch, nicht mehr krank zu werden. Dieser fromme Wunsch nach der Unsterblichkeit und ewigen Gesundheit verbirgt jedoch eine tiefe Angst in sich.
Als Warnsignal führen wir uns diese Angst ständig vor Augen, indem wir uns nach Krankheiten gegenseitig benennen und mit Massenimpfungen vorsorgen.
Gegen alle möglichen Krankheiten und Viren wird mittlerweile geimpft, gegen Diabetes, über alle möglichen Krebsarten und Tumoren hinweg bis hin zu Virenarten, Infektionskrankheiten und gar psychische Krankheiten. Vor 100 Jahren wäre so etwas unvorstellbar gewesen – heutzutage ist es reine Wirklichkeit.
Es ist die Zukunft, in der ich lebe. Daher will ich diese anfänglichen Tagebucheinträge nicht mit Datum vermerken, sie sollen so anonym gehalten werden, wie möglich.
Das liegt daran, dass diese Schriftwerke, meine Tagebucheinträge von verbotenen Handlungen zeugen, die mich im wachsamen Auge der übertriebenen Hygieneregelungen meiner Ärztestadt strafbar machen.
Verbotene Schriften, nichts anderes als verbotene Schriften sind sie, meine anonymisierten Tagebucheinträge.
Inmitten all dieser verbotenen Handlungen, die in meiner Schrift wurzeln, so kann ich, als anonymisierter Arzt, Mitversorger, Nutzer und Konsument dieser Stadt eines zu Recht behaupten und in Wahrheit verkleiden: Neben den allgegenwärtigen Impfmaßnahmen wird derzeit auch an einer großen Sensation geforscht.
Diese Sensation besteht darin, dass es sie noch nie in der Menschheitsgeschichte gab.
Doch vielleicht, in naher Zukunft wird es sie geben, die große Sensation, woran derzeit fieberhaft geforscht wird.
Diese große Sensation, die auch mir im Forschungslabor den Schlaf und die Nächte raubt.
Was aber ist die nahe Zukunft, die Zukunft überhaupt?
Woran misst sie sich, die Z