1. KAPITEL
Freitag, 15.00 Uhr
Der Himmel war bleigrau. Ein Sturm kündigte sich an. Dr. Olivia Bridges lenkte ihren Wagen in eine Haltebucht und griff nach der Straßenkarte. Wenn tatsächlich ein Sturm aufkommen würde, musste sie versuchen, so schnell wie möglich an ihr Ziel zu gelangen.
Sie fuhr mit dem Finger die Route entlang und seufzte. Es waren bestimmt noch fünfzig Meilen bis zu dem Krankenhaus. Vielleicht sollte sie Sebastian anrufen und ihm sagen, dass sie auf dem Weg zu ihm war. Dann würde er sie dort erwarten. Er hatte ihr zwar vor Monaten geschrieben, dass er umgezogen war, aber sie war noch nie dort gewesen und fürchtete, sie würde seine neue Adresse nicht finden.
Sie nahm ihr Handy aus der Tasche, die neben ihr auf dem Beifahrersitz lag, aber als sie gerade die Kurzwahltaste mit seiner Rufnummer drücken wollte, änderte sie ihre Meinung. Wenn sie ihm sagte, sie sei auf dem Weg zu ihm, würde er wissen wollen, warum. Und sie konnte ihm wohl schlecht am Telefon sagen, dass sie ihn bitten wollte, in die Scheidung einzuwilligen. Das erschien ihr allzu brutal. Ihre Ehe war vielleicht nicht besonders glücklich gewesen, aber Olivia wollte sie wenigstens mit Anstand und Würde beenden.
Sie steckte das Handy wieder in die Tasche und fuhr los. Das Gespräch mit Sebastian würde alles andere als angenehm sein, aber sie musste es hinter sich bringen.
Olivia hatte sehr häufig über alles nachgedacht, aber es gab wohl keine Chance, dass Sebastian und sie wieder zueinanderfanden. Sie kannten sich seit ihrer Schulzeit, hatten gemeinsam Medizin studiert und einen Tag nach dem Examen geheiratet. Aber sie waren nicht mehr die unkomplizierten, bis über beide Ohren verliebten jungen Leute von damals …
Die Erinnerung an die gemeinsamen Träume, an die Zukunftspläne, die sie voller Begeisterung geschmiedet hatten, war schmerzlich. Sie waren sich so sicher gewesen, dass ihre Liebe allen Belastungen standhalten würde, aber dann hatten die beruflichen Anforderungen, die endlosen Arbeitsstunden ihren Tribut gefordert.
Es gab Wochen, in denen sie sich kaum gesehen hatten, wenn sie und Sebastian zu unterschiedlichen Zeiten Nacht- oder Wochenenddienst hatten machen müssen. Sie hatten schließlich beide ihren Job in dem Krankenhaus aufgegeben und eine Tätigkeit in einer Praxis für Allgemeinmedizin angenommen.
Zuerst schien das auch besser zu funktionieren und ihrer Ehe gut zu bekommen – aber dann war Sebastian ein Traumjob im Nordosten des Landes angeboten worden, weit weg von ihrem bisherigen Wohnort im Süden Englands.
Olivia verzog bitter den Mund, als sie daran dachte, dass sie ihren ersten großen, handfesten Krach bekommen hatten, als er ihr davon erzählte. Gerade hatte sie begonnen, sich in der Praxis in Sussex wohlzufühlen. Sie hatte Sebastian vorgeworfen, er sei egoistisch, weil er erwartete, sie würde ihren Job aufgeben und mit ihm kommen. Er hatte sie daraufhin beschuldigt, engstirnig und bockig zu sein. Der Streit war eskaliert, keiner von beiden hatte nachgeben wollen. Schließlich war Sebastian wütend in das kleine Gästezimmer gezogen und hatte Olivia im Schlafzimmer allein gelassen.
Sie seufzte. Zum ersten Mal seit ihrer Heirat hatten sie getrennt geschlafen. Das war wahrscheinlich ihr größter Fehler gewesen. Denn von da an hatte sich immer einer von ihnen in das Gästezimmer zurückgezogen, wenn sie sich st