1. KAPITEL
Auf diesen Moment war Deputy Jessica Santiago nicht vorbereitet.
Hier halfen ihr weder ihr Bachelor in Strafjustiz noch ihre Zeit an der Polizeiakademie und erst recht nicht der Stapel Richtlinien, die sie auswendig gelernt hatte, bevor sie ihre erste Schicht beim Sheriff’s Department von Palmetto County begann. Unter der perfekt gebügelten marineblauen Uniform, die sie voller Stolz vor ein paar Stunden angezogen hatte, rann Schweiß zwischen ihre Brüste, als wollte er sich über ihre Tapferkeit im Angesicht der Gefahr lustig machen.
Aber Ryan O’Sullivan war nicht die Art von Gefahr, mit der sie als frischgebackene Polizistin gerechnet hatte.
Was tat er hier? Er trug die gleiche Uniform wie sie, und sie wurde rot, als sie daran dachte, wie er ohne Bekleidung aussah. Er sollte nicht hier in Paradise sein. Bei ihrem letzten Gespräch, hastig und verlegen, als sie sich im Morgengrauen anzog, hatte er ihr erzählt, dass er bei der Polizei seiner Heimatstadt anfangen würde. Er müsste also Hunderte von Meilen entfernt in Miami Beach sein, nicht auf der anderen Seite des Raums und so sexy, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Sie hätte niemals mit ihm geschlafen, wenn sie gewusst hätte, dass sie ihn wiedersehen würde.
Natürlich war sie keine Jungfrau mehr gewesen. Ihr erstes Mal hatte sie auf dem College erlebt, mit ihrem festen Freund, der ein Jahr vor ihr die University of Florida abgeschlossen hatte und nach Oregon umgezogen war. One-Night-Stands waren nie ihr Stil gewesen. Sie war in einer religiösen Familie aufgewachsen, und obwohl sie nicht alle Lehren der Kirche befolgte, war sie noch immer das brave katholische Mädchen, zu dem ihre Mutter sie erzogen hatte. Aber Ryan O’Sullivan hätte selbst einen Engel in Versuchung geführt.
Hochgewachsen, mit breiten Schultern, die den erfolgreichen College-Schwimmer verrieten, überragte er alle anderen im Raum. Mit eins sechzig war sie einen Kopf kleiner, aber das war nicht der einzige Grund, warum sie ihn als unerreichbar eingestuft hatte. Auf der Akademie war er der ungekrönte König der angehenden Polizisten gewesen, die Art von Mann, die bei den anderen Männern Bewunderung und bei den Frauen ein tief im Bauch sitzendes Gefühl weckte.
Als Jessica ihn jetzt unauffällig musterte, verstand sie, warum er immer von Frauen umgeben zu sein schien. Er hatte dunkles Haar, klassische Gesichtszüge, um die ihn jedes männliche Model beneiden würde, und ausdrucksvolle braune Augen. Aber sie war damals auf die Akademie gegangen, um etwas zu lernen, nicht um zu flirten. Also hatte sie jedes Mal abgelehnt, wenn er sie einlud, mit ihm auszugehen – bis zur Abschlussfeier, als etwas zu viel Tequila ihr die Hemmungen genommen hatte.
Hätte sie gewusst, dass sie zwei Monate später mit ihm zusammenarbeiten würde, hätte sie ihm widerstanden, sosehr die Chemie zwischen ihnen auch gestimmt hatte.
Nein, nicht die Chemie. Eher die Erleichterung über das Ende der anstrengenden Ausbildung, das Gefühl von Freiheit zusammen mit einer hohen Dosis alkoholgeschwängerter Lust. Nein, es war ganz spontan passiert, aus einer Augenblickslaune heraus – nichts Persönliches. Vermutlich hatten sie beide so viel getrunken, dass er die Nacht längst vergessen hatte.
Sie klammerte sich an diese Hoffnung, und eilte nach der Besprechung zur Tür. Der Sergeant würde ihr einen Partner für die abendliche Streife zuteilen. Ryan verstellte ihr den Weg in den Wachraum, auf dem Gesicht ein jungenhaftes Lächeln. In ihr stieg eine böse Vorahnung auf.
„Jessica, ich habe dich gesucht.“
Sie versuchte zu vergessen, dass er sie nackt gesehen hatte. „Na ja, du hast mich gefunden.“ Geistreich. „Ich habe nicht erwartet, dich hier zu treffen.“ Oder jemals wieder.
„Jason hat in letzter Minute die Stelle in Miami genommen.“ Er zuckte mit den breiten Schultern. „Die hie