2. KAPITEL
Vivian nahm die letzten beiden Stufen mit erleichtertem Schwung. Oben angekommen blieb sie angespannt stehen. Sie holte tief Luft und zwang sich, auf die schmale Treppe zurückzublicken, die aus dem schroffen Abhang herausgemeißelt worden war und deshalb steil nach unten führte. Erschauernd blickte sie auf das von Felsen übersäte, meeresgrüne Nichts zu ihren Füßen. Tief unter ihr am Strand löschten zwei Männer die Fracht aus dem Laderaum des kleinen Fährbootes. Jetzt erst wurde ihr bewusst, wie hoch sie war. Nur ein breites Holzgeländer bewahrte sie vor dem Absturz.
Vivian schluckte hart. Ihre Beine fühlten sich an wie Gummi. Wankend kämpfte sie gegen das Verlangen an, zu Boden zu sinken, um sich auszuruhen und zu sammeln.
Die eine Hand gegen den Bauch gepresst versuchte sie, ihren aufgewühlten Magen zu beruhigen. Mit zwei hastigen Schritten entfernte sie sich von der Steilkante, wandte sich schnell ab und eilte den steil ansteigenden, steinigen Weg entlang. Niedrige, kümmerliche Bäume säumten den Pfad. Bevor sie an ihrem Ziel ankam, musste sie unbedingt die Kontrolle über sich wiedergewinnen. Sie straffte die Schultern, strich im Gehen ihren eleganten dunkelgrünen Rock glatt und rückte den dazu passenden Blazer zurecht. Nervös wechselte sie ihre Aktentasche aus weichem Leder von einer Hand in die andere. Um ruhiger zu werden, bemühte sie sich, wenigstens den Anschein eines professionellen Auftretens zu erwecken.
Immerhin hatte sie einen guten Ruf zu verteidigen. Als Vertreterin der Immobiliengesellschaft Marvel-Mitchell Realties sollte sie hier ein entscheidendes Grundstücksgeschäft unter Dach und Fach bringen. Von ihrem Erfolg hing eine Menge ab. Es ging nicht nur um Geld. Das künftige Glück der Menschen, die sie liebte, stand auf dem Spiel.
Allerdings hatte es ihre Stimmung nicht verbessert, dass die Überfahrt von der Coromandel-Landzunge auf diese Insel wegen des starken Seegangs doppelt so lange gedauert hatte wie üblich. Nach einer überstürzten dreistündigen Autofahrt von Auckland am vergangenen Abend und einer schlaflosen Nacht in einem unbequemen Motelbett war ihr die stürmische Begegnung mit dem Pazifischen Ozean nicht gut bekommen.
Da ihr Ziel die Privatinsel eines Millionärs war, hatte Vivian – naiv, wie sie jetzt wusste – angenommen, von einer luxuriösen Barkasse oder einem Tragflächenboot abgeholt zu werden. Niemals wäre ihr in den Sinn gekommen, dass diese alte, hässliche Nussschale, zu der man sie in Port Charles geführt hatte, für ihre Beförderung sorgen sollte. Außerdem hatte sie gedacht, die Insel sei ein üppig bewachsener Zufluchtsort mit wunderschönen weißen Sandstränden und einer blühenden Vegetation. Stattdessen handelte es sich um einen windigen, heftig umtosten Felsen mitten im Nichts. Wobei mir der Name ein Hinweis hätte sein müssen, dachte sie trocken.
Nowhere – Nirgendwo. Sie hatte es für originell gehalten. Nun erst erkannte sie, wie aussagekräftig der Name tatsächlich war!
Was für ein Mann war das, der jemanden den ganzen Weg bis hierher auf diese Insel anreisen ließ? Und das nur, um ein Geschäft abzuschließen, das man besser und vor allem sicherer im Büro in der Stadt hätte besiegeln können? Leider kannte sie die Antwort auf diese Frage nur zu genau: Ihr Vertragspartner war darauf aus, für Schwierigkeiten zu sorgen. Ein skrupelloser Mann, dem ein einfacher Sieg nicht reichte. Niemals würde er sich davon in seinem Zorn besänftigen lassen. Wenn sie seine Pläne durchkreuzen wollte, würde sie sein Spiel zuerst mitspielen müssen.
Vivian durchquerte ein vom stetigen, scharf pfeifenden Wind geformtes Wäldchen mit niedrigen, trockenen Sträuchern und blieb wie angewurzelt stehen. Schockiert sah sie sich um.
Jenseits eines schmalen Bergkamms, am Ende einer flachen, felsigen Landzunge, stand ein Leuchtturm. Wenn sie nicht so sehr damit beschäftigt gewesen wäre, jämmerlich über der Reling des Bootes zu hängen und mit der Übelkeit zu kämpfen, hätte sie den hohen weißen Turm auf der Fahrt zur Insel sicherlich gesehen.
Entmutigt streifte ihr Blick den breiten Betonsockel und wanderte hinauf, vorbei an den vier winzigen übereinander angebrachten Fenstern bis zu dem offenen Balkon direkt unter den großen, rautenförmig angeordneten Glasscheiben, die das Leuchtfeuer beherbergten. Wie viele Stufen musste man wohl erklimmen, um dort hinaufzukommen?
Entsetzt richtete sie die Augen wieder nach vorne. Ihr Bedarf an ungeahnten Höhen war für heute gedeckt. Doch da entdeckte sie ein niedriges, weiß gestrichenes Gebäude, das an den Turm angrenzte. Das Haus des Leuchtturmwärters. Grenzenlose Erleichterung durchflutete sie mit einem Mal.
Sie riss sich zusammen. Lass nicht deine Fantasie mit dir durchgehen, Vivian, rief sie sich zur Ordnung. Alle neuseeländischen Leuchttürme waren inzwischen automatisiert worden. Vielleicht war er sogar stillgelegt? Es gab keinen Grund hinaufzusteigen. Aber warum machte sie sich darüber überhaupt Gedanken? Leuchttürme gingen sie nichts an. Sie war wegen des Mannes in dem netten, gewöhnlichen und vor allemniedrigen Gebäude hier, das daneben stand.
Der schmale Pfad über den engen Bergkamm war auf beiden