1. KAPITEL
Keelin O’Donnell war eigentlich ein Mensch, der den neuen Tag mit Schwung und Elan begann. Heute jedoch wurde ihre heitere Frühaufstehermentalität hart auf die Probe gestellt.
Sie blieb stehen, sah sich um und seufzte. Das Haus musste hier doch irgendwo sein. Hatte sie sich etwa verirrt?
Plötzlich ertönte in der Nähe Hundegebell.
„Na wunderbar.“ Keelin sah mit gerunzelter Stirn in die Richtung, aus der das Bellen kam. „Jetzt werde ich auch noch von wilden Hunden angefallen. Hier, mitten im Moor. Der Hund der Baskervilles ist also doch real.“
Das Bellen kam näher. Einem angriffslustigen Knurren glich es allerdings nicht, eher einem aufgeregten Kläffen. Das beruhigte Keelin immerhin ein wenig. Mit ihren blauen Augen suchte sie aufmerksam die Gegend ab. Jetzt, da die letzten Schwaden des Morgennebels sich lüfteten, konnte sie auch endlich die Umrisse von alten Steinmauern zu beiden Seiten der Straße, auf der sie ging, erkennen. Da lagen Felder, über denen noch milchige Dunstwölkchen standen, dort, wo der Morgentau sich in kleinen Kuhlen gesammelt hatte.
In der Ferne hörte Keelin das Rauschen der See, Salzgeruch lag in der Luft. Das rhythmische Schlagen der Brecher an die Felsen sollte eigentlich beruhigend wirken, doch Keelin kam sich verlassen vor wie der letzte Mensch auf Erden.
Bis sie aus den Augenwinkeln heraus eine Bewegung wahrnahm. Eine Gestalt kam durch den Nebel geradewegs auf sie zu. Das Hundegebell wurde lauter. Sie hörte eine Stimme – eindeutig männlich – nach den Hunden rufen, dann ein Pfeifen. Also war es ein Mann, der sich ihr näherte, und nicht irgendein gespenstischer Moorgeist.
Nebelfetzen waberten um seine Knie. Die Sonne trat aus den Wolken und warf ihr Licht auf sein dunkles Haar. Keelin blieb regungslos stehen und hielt den Atem an.
Der Mann sah faszinierend aus!
Er hätte direkt einem Modemagazin für rustikale Mode entstiegen sein können. Frauen kauften solche Sachen für ihre Männer, in der Hoffnung, den verweichlichten Städter in einen edlen Landlord zu verwandeln.
Zwei quicklebendige Springerspaniels liefen neben ihm her, und Keelin glaubte plötzlich, in die Vergangenheit zurückversetzt worden zu sein. Das musste an dem Aufzug des Mannes liegen, anders war es nicht zu erklären. Er trug einen langen gewachsten Mantel, das kragenlose Hemd stand am Hals offen, und er benutzte sogar einen langen Stock beim Gehen! Wenn Heathcliff, die Hauptfigur aus Emily Brontës Roman „Sturmhöhe“, an jenem Morgen im Moor auch nur halb so gut ausgesehen hatte, war es völlig unverständlich, wie Catherine ihn jemals hatte verschmähen können!
Ohne den Blick von ihr zu wenden, näherte sich der Mann ihr. Keelins Mund wurde trocken. Wo versteckten sich solche Kerle denn ansonsten? Etwa hier auf dieser kleinen Insel vor der Küste von Kerry? Welch eine Verschwendung für die Frauenwelt!
„Guten Morgen.“
Himmel, selbst seine Stimme war ein Traum! Die tiefste, melodischste, sonorste, samtenste Stimme, die Keelin je gehört hatte. Geradezu die Symphonie einer Stimme! War dieser Mann überhaupt real oder eine Erscheinung?
Sie blinzelte und starrte ihn stumm an. Schließlich hatte sie schon immer eine Schwäche für große, dunkle, gut aussehende Männer gehabt. Welche Frau nicht?
Sag etwas, Keelin!
Schließlich räusperte sie sich und brachte ein heiseres „Hallo“ hervor.
Wie geistreich!
Der Mann schaute sie unverwandt an. „Haben Sie sich verlaufen?“
Wenn der Rest an ihm ebenso fantastisch war wie seine Augen, könnte ihr das durchaus noch passieren! „Nicht dass ich wüsste. Das heißt, wenn der Mann im Hotel mir die richtige Wegbeschreibung gegeben hat.“
„Patrick?“ Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, ließ eine Reihe perfekter weißer Zähne aufblitzen und zwei winzige Grübchen auf beiden Wangen, während er weiter auf sie zutrat. „Wahrscheinlich hat er auch behauptet, es sei nur ein kleines Stück zu laufen, gerade genug, um sich die Beine zu vertreten?“
Wenn man so lange Beine hatte wie dieser Mann, vielleicht. Keelin allerdings war knapp über 1,60 m groß, und das auch nur an den Tagen, an denen sie Schuhe mit hohen Absätzen trug. Valentia Island vor der Südwestküste Irlands war mit Sicherheit nicht der Ort für hohe Absätze.
Sie nickte ergeben. „Richtig. Ist das sein üblicher Streich für Leute, die sich hier nicht auskennen?“
„Ich fürchte, ja.“ Ohne den Blick von ihrem Gesicht zu wenden, streichelte er einem Spaniel über den Kopf. Der Hund wedelte begeistert mit dem Schwanz. „Wohin wollten Sie denn?“
„Inishmore House.“ Keelin bemühte sich redlich, nicht eifersüchtig auf einen nassen Hund zu sein. Schließlich hatte ihr das letzte Mal jemand über den Kopf gestrichen, als sie neun gewesen war, und schon damals hatte sie es nicht leiden können.