Kapitel 1: BEGEGNUNG
„Du langweilst mich weder intellektuell noch sexuell. Du langweilst mich nur, weil du mich liebst. Niemand hat mich je geliebt wie du.“ Drei Jahre wird es dauern, bis du das sagst. Aber da weiß ich es längst. Zuckergift. Ich schlucke. Schlucke, schlucke, schlucke. Zwischendurch kommt es mir hoch. Bis zur nächsten Dosis. Doch bei unserem ersten Treffen ahne ich nichts.
„ Nie wieder einen Künstler“, schwört meine Freundin Tabea nach der Trennung von einem norwegischen Pianisten.
Endlich einen Künstler , denke ich.
Nein, im Grunde tue ich das nicht. Das schreibe ich nur jetzt, im Nachhinein, als kleinen Schnörkel unserer Geschichte. Im Moment des Kennenlernens denke ich gar nicht viel, sondern fühle. Und das nicht mit dem Kopf. Der Körper hat eine ganz eigene Poesie, und wer diese banal nennen möchte, hat alles Recht dazu und doch nur teilweise recht. Verlangen also, wenn man so will. Geilheit. Wollen, Drängen, Erkennen oder einfach nur ein kleines Flackern, das mich unruhig werden lässt.
Du bist jung, ein ganzes Stück jünger als ich.
Und nicht allein.
An deiner Seite eine rot gekleidete Tänzerin mit „Guck mich an“-Attitüde. Und ja, ihr seid ein schönes und auffälliges Paar.
Die Wände sind voll mit Fotos von ihr, Schwarz-Weiß-Bilder, auf denen sie kunstvolle Verrenkungen vollführt, manchmal nackt, meist in zerrissenen, befleckten Kleidern und frei von jeglicher Scham.
Manche schämen sich mehr von innen , denke ich, und frage mich im selben Moment, was das eigentlich heißen soll. Einer dieser poetischen Fake-Sätze, die man nur bewundern, aber nicht berühren darf, sonst fallen sie in sich zusammen. Trotzdem sprudelt es weiter:von innen, fast unsichtbar. Vielleicht meine ich das: Strecken dir, ohne rot zu werden, ihr ganzes körperliches Sein entgegen, sprechen laut und fest von Freiheit und Trieb, lachen und tanzen, und an den Nebenschauplätzen dieser vermeintlichen Feier des Lebens erahnst du schimärenhaft das zusammengekauerte, hilflose Kind. Die junge Frau macht mich traurig. Warum? Irgendeine Ahnung von früher. War ich einst genauso? Vielleicht.
Ich halte dich, den Begleiter des Modells, für den Fotografen, was mich auf die falsche Fährte lockt. Deine Kunst ist viel brutaler und rauer als die hier gezeigten Bilder, weniger blumig in ihrer Symbolik. Das rohe Material ist der Mittelpunkt deiner Arbeit, dein Heiligtum, du willst Instinkte ansprechen, nicht zu verkopften Analysen inspirieren. Nackt und blutig und heiß und kalt. Ein einziger Rausch, wie alles, was später folgt, nur zeitweise unterbrochen von verkaterten Stunden. Aber erst ist es nur ein Abend. Eine Vernissage zwischen Rohren und unverputzten Mauern. In der Bonbina, einer alten Zuckerwarenfabrik. Kulturzentrum nun. Theater, Musik und Bilder.
Im Grunde ist es einfach: In meiner Kunst blicke ich auf den Kiesel, du in der deinen auf den Berg. Ich auf die Träne, du auf das Meer, ich auf den Moment, du auf die Ewigkeit. Was die Märchen angeht, die Hoffnungen, die Illusionen, ist es umgekehrt. Ich glaube an eine friedliche Heilung der Welt, du an deine eigene Heilung durch Liebe. Kinder sind wir, alle beide. Verirrte, sehnsüchtige Kinder. Kein Wunder, dass wir einander wieder und wieder verpassen. Dass wir dasselbe suchen, begreifen wir erst spät: ein Leben und Lieben, das größer ist als wir selbst. Etwas Göttliches, das wir nicht Gott nennen wollen,