Viertes Kapitel
Im Casino Baldi wohnte unter anderen nordischen Sommergästen – das Haus wurde von der deutschen Künstlerschaft sozusagen mit Beschlag belegt – auch der BildhauerHeinrich Weber. Er galt seinen Landsleuten für ein Genie und einen Mann der Zukunft, falls ihm eine solche beschieden sein sollte. Denn seine Freunde flüsterten von Tuberkulose, welche mörderische Krankheit gerade in seinem Alter – er stand Anfangs der Zwanzig – überaus gefährlich war. Niemand ahnte, ob der junge Künstler seinen Zustand kannte, und jedem flößte der arme Jüngling mit dem blassen, fast weißen Gesicht und dem üppigen rotblonden Gelock innige Teilnahme ein. Jeder glaubte an ihn, an seinen Genius. Der ganze Mensch hatte etwas Lichtes, Leuchtendes, und das nicht nur in seinem durchgeistigten Gesicht und Blick, sondern auch in seinem Wesen. »Apollinisch-bacchisch« nannte es der Professor, dessen Liebling und Schmerzenssohn zugleich sein Freund Heinz war: Schmerzenssohn, weil sich Heinrich Weber in seiner Kunst durchaus als »Moderner« erwies, wozu er freilich als Sohn seiner Zeit alles Recht besaß. Seine Kompositionen waren von einem Stil, dem die strenge Antike – die Antike Griechenlands und Phidias' – jede Daseinsberechtigung abgesprochen hätte: Heinrich Weber »malte« in Bronze und Marmor. Dabei welches Talent und welch prachtvoller Mensch! Aber in seiner Kunst eine Persönlichkeit, die an sich nicht rühren ließ. Der Professor galt ihm als – eben als der »gute« Sor Rodolfo. Seine Bilder würdigte er keines Blicks, was der Alte als Zeichen seines sich Überlebthabens voll schweigenden Kummers hinnahm, den Jungen wegen dessen großen Könnens laut rühmend, zugleich um die Verirrung solcher Kunst heimlich trauernd und um die Gesundheit des jungen Freundes sich sorgend. Denn: »Wenn dieses gewaltige Talent und dieser herrliche Mensch von den Göttern zu sehr geliebt werden, also jung sterben sollte – es wäre ein Jammer, nicht auszudenken!«
Einstweilen wollte der scheinbar einem frühen Tode Geweihte leben. Ja, er wollte das Leben wie einen Becher, gefüllt mit berauschendem Trunk, an die Lippen setzen; wollte den vollen Pokal leeren bis zum letzten Tropfen; und nirgends auf der Welt wurde dem Künstler sowohl wie dem Menschen das trunkenmachende Lebenselixir mit solchen glühenden duftenden Rosen bekränzt wie in Italien, wie in Rom, dessen Herrlichkeit Erhabenheit war. In dem einen fanden sich daher der Alte und der Junge: in ihrer leidenschaftlichen Liebe zu Italien, wie sie in solcher Reinheit nur in dem Herzen eines jener Barbaren von jenseits der Alpen entbrennen konnte, einem Opferfeuer gleich ...
Wenige Tage nach Ankunft der Familie Müller erschien in Olevano auch Heinrich Weber, leidenden Aussehens, aber lodernd in Lebensgluten. In andern Jahren war er später gekommen. Diesen Frühsommer jedoch wollte er dem Volksfest der heiligen Trinität auf dem Monte Autore im Simbriotal, hoch über Subiaco, beiwohnen, eine Wallfahrt aller Völkerschaften der Felsenberge ohnegleichen in Italien. Der Professor hatte in früherer Zeit dieses Ereignis des öfteren genossen und davon dem Freunde begeisterte Schilderungen gemacht. Nun wollte dieser selbst sehen und staunen.
Allein würde er die weite Wanderung unternehmen. Nach dem Winter in Rom sehnte er sich nach Einsamkeit und innerer Einkehr, fühlte er das Bedürfnis nach neuen starken Eindrücken, nach Eindrücken, die ihm Italiens Natur und Volk geben sollten. Seit langem trug er sich mit dem Gedanken einer großen Komposition, die er bisher nur in schwankenden Gestalten