: John Galsworthy
: Der Patrizier
: Books on Demand
: 9783756210022
: 1
: CHF 2.60
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: Hauptwerk vor 1945
: German
: 402
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Licht, das in das weite Gemach eindrang - ein Gemach von solcher Höhe, daß die geschnitzte Decke sich genauer Betrachtung entzog - wanderte mit der sinnenden, kühlen Neugier der Morgendämmerung über ein phantastisches Museum der Zeit. Das Licht, unbefangen von dem Vorurteil des menschlichen Auges, enthüllte seltsame Widersinnigkeiten, als beleuchte es den leidenschaftslosen Gang der Geschichte. Denn in diesem Speisesaal, einem der schönsten in England, hatten die Caradocs jahrhundertelang die Trophäen und Dokumente ihrer Existenz gesammelt. Rund um diesen Speisesaal hatten sie gebaut, niedergerissen und wiederaufgebaut, bis die übrigen Gebäude von Monkland Court ein ziemlich einheitliches Bild boten. Hier allein hatten sie das Werk der alten, beinahe möchte man sagen, mönchischen Baumeister unberührt gelassen, und in dieser Halle hatten sie unbewußt ihre Seelen eingeschlossen. Denn hier befanden sich, nunmehr dem Lichte ausgesetzt, all jene fast rührenden Zeugnisse menschlichen Sehnens, für immer fortzuleben, jene Hüllen ihrer verblichenen Körper, die Fetische und sonderbaren Wahrzeichen ihres Glaubens, und überall die Spuren ihrer Behandlung durch die mitleidslosen Hände der Zeit. Der Chronist hätte hier alle notwendigen Bestätigungen finden, der Forscher aus diesem Material die adelige Herkunft genau beweisen, der Philosoph der Entwicklung der Aristokratie nachspüren können von den Uranfängen ihrer Übermacht durch rohe Gewalt oder Schlauheit, Jahrhunderte ihrer Herrschaft hindurch, zu malerischem Verfall und bis zum Beginn ihres Widerstandes. Sogar der Künstler hätte hier vielleicht ihren trockenen, unergründlichen, alles durchdringenden Geist zu empfinden vermocht, so wie man ihn etwa beim Besuch einer alten Kathedrale in seiner Verknöcherung herausfühlen kann. Von dem sagenumsponnenen Schwert jenes walisischen Häuptlings, dem eine Tat des Hochverrats die Gunst und eine Belohnung Wilhelms des Eroberers eingebracht und der mit der Witwe eines Normannen viele Ländereien in Devonshire erhalten hatte, bis zu dem Pokal, den die Pächter in Devonshire für ihren Gutsherrn Geoffrey Caradoc, den gegenwärtigen Earl of Valleys, anläßlich seiner Eheschließung mit Lady Gertrude Semmering durch Sammlung erstanden, fehlten keinerlei Insignien, mit Ausnahme der Familienportraits in der Galerie von Valleys House in London. Es war sogar ein altes Duplikat jener vergilbten und zerfetzten Schriftrolle vorhanden, laut welcher von königlicher Seite Titel und Ländereien ...

John Galsworthy lebte von 1867 bis 1933 und war ein englischer Schriftsteller.

dem Lichte ausgesetzt, all jene fast rührenden Zeugnisse menschlichen Sehnens, für immer fortzuleben, jene Hüllen ihrer verblichenen Körper, die Fetische und sonderbaren Wahrzeichen ihres Glaubens, und überall die Spuren ihrer Behandlung durch die mitleidslosen Hände der Zeit.

Der Chronist hätte hier alle notwendigen Bestätigungen finden, der Forscher aus diesem Material die adelige Herkunft genau beweisen, der Philosoph der Entwicklung der Aristokratie nachspüren können von den Uranfängen ihrer Übermacht durch rohe Gewalt oder Schlauheit, Jahrhunderte ihrer Herrschaft hindurch, zu malerischem Verfall und bis zum Beginn ihres Widerstandes. Sogar der Künstler hätte hier vielleicht ihren trockenen, unergründlichen, alles durchdringenden Geist zu empfinden vermocht, so wie man ihn etwa beim Besuch einer alten Kathedrale in seiner Verknöcherung herausfühlen kann.

Von dem sagenumsponnenen Schwert jenes walisischen Häuptlings, dem eine Tat des Hochverrats die Gunst und eine Belohnung Wilhelms des Eroberers eingebracht und der mit der Witwe eines Normannen viele Ländereien in Devonshire erhalten hatte, bis zu dem Pokal, den die Pächter in Devonshire für ihren Gutsherrn Geoffrey Caradoc, den gegenwärtigen Earl of Valleys, anläßlich seiner Eheschließung mit Lady Gertrude Semmering durch Sammlung erstanden, fehlten keinerlei Insignien, mit Ausnahme der Familienportraits in der Galerie von Valleys House in London. Es war sogar ein altes Duplikat jener vergilbten und zerfetzten Schriftrolle vorhanden, laut welcher von königlicher Seite Titel und Ländereien John, dem hervorragendsten aller Caradocs, neuerlich zugesichert wurden, der es unglücklicherweise verabsäumt hatte, ehelich zur Welt zu kommen infolge einer jener komischen Vergeßlichkeiten, denen man in der Genealogie der meisten alten Familien begegnet. Ja, dort hing sie fast zynisch in einer Ecke; denn wenn auch dieser Vorfall gewiß eine brennende Frage im fünfzehnten Jahrhundert gewesen war, so lieferte er jetzt nur noch den Stoff zu einer ironischen kleinen Geschichte in Anbetracht der Tatsache, daß Nachkommen von Johns ›eigenem‹ Bruder Edmund zweifellos unter den Bauern einer nicht weit entfernten Gemeinde zu finden waren.

Das Licht, das auf die Rüstungen und auf die Tigerfelle darunter fiel, die Bertie Caradoc, der jüngere Sohn, erst vor Jahresfrist aus Indien heimgebracht, schien zu erzählen, wie kraft des einfachen Naturgesetzes, das die Starken und Abenteurer bevorzugt, jene, die einst in der vordersten Reihe gestanden hatten und an denen jetzt der Hauptstrom des nationalen Lebens fast vorbeifloß, sich gezwungen sahen, Abenteuer zu ersinnen, damit sie nicht am Ende den Glauben an ihre eigene Kraft einbüßten.

Das unbarmherzige Licht jener ersten halben Stunde des Sommermorgens erzählte noch von vielen sonstigen Änderungen, wie es so von den ernsten Wandbehängen zu den Samtteppichen wanderte und aus deren Gegensatz den sicheren Beweis erbrachte, daß der gesunde Menschenverstand des gegenwärtigen Grafen und der Gräfin die Askese der Vergangenheit nicht aufkommen ließ. Und dann schien es das Interesse an dieser kritischen Reise zu verlieren, als sehnte es sich danach, alles in Zauberglanz zu hüllen. Denn die Sonne war aufgegangen, und zu den östlichen Fenstern strömte ihre geheimnisvolle Freude weit herein. Und mit ihr kam durch eine offenstehende Butzenscheibe eine wilde Biene in den Saal, die sich zwischen den Blumen auf dem einen Ende des Tisches niederließ, das benutzt wurde, wenn nur wenige Leute im Hause waren. Die Stunden flogen schweigend dahin, bis die Sonne hoch stand und die ersten Besucher erschienen: drei rosige, schwatzende Dienstmädchen, die mit Besen hereinkamen. Sie gingen weiter, und zwei Diener traten ein, die Vorläufer der Frühstücksbrigade, die einen Augenblick in professionellem Nichtstun herumstanden, wonach sie anfingen, bedächtig den Tisch zu decken. Dann kam ein kleines sechsjähriges Mädchen, das sehen wollte, ob nicht irgend etwas Aufregendes passierte – die kleine Ann Shropton, Tochter des Sir William Shropton aus seiner Ehe mit Lady Agatha, der ältesten Tochter des Hauses und der einzigen der vier jungen Caradocs, die schon verheiratet war. Sie schlich auf den Zehenspitzen, um zu überraschen, was zu überraschen da war. Sie hatte ein breites, kleines Gesicht und weitgeöffnete, freimütige, haselnußfarbene Augen über einer kleinen Nase, die gerade und etwas spitz aus dem Gesicht wuchs. Von einem losen Gürtel umschlungen, der tief unter der Taille ihres grauen Leinenkleidchens angebracht war, wie um die Ungebundenheit zu symbolisieren, schien sie alles im Leben für einen guten Spaß zu halten. Und bald hatte sie auch etwas Aufregendes gefunden.

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