Prolog
Prag, 1930
Eva schob ihren Klavierschemel zurück, die Stunde war beendet. Doch als sie die Noten in ihre Mappe stecken wollte, bedeutete Professor Nowotny ihr mit einer Handbewegung, noch zu bleiben.
»Nur eine Minute, meine Liebe. Ich möchte, dass du die Noten eines neuen Stücks mit nach Hause nimmst.« Er durchsuchte den gefährlich schiefen Turm der Notenhefte auf seinem Klavier.
Eva warf einen Blick auf die Wanduhr, die halb fünf zeigte, und hoffte, er würde das Gesuchte bald finden. Im Probenraum wurde es bereits dämmrig, in den Ecken nistete sich Dunkelheit ein. Nervös legte sie die Fingerspitzen auf die vergilbten weißen Tasten des Klaviers. Als sie das vertraute, kühle Elfenbein spürte, wurde sie ruhiger.
»Ah, hier ist es.« Nowotny schnaufte vor Anstrengung. »Hector Berlioz. Eine Villanelle ausLes Nuits d’Été. Eines seiner weniger bekannten Werke.« Er schaltete die Deckenlampe ein, die Dunkelheit verflog.
»Eine Villa … nelle?«, fragte Eva. Der Begriff war ihr neu, die Zeitnot schlagartig vergessen.
Nowotny winkte sie von dem Klavierschemel fort. Eva stellte sich an seine Seite. Sie wollte ihn beim Klavierspiel beobachten.
»Ein italienisches Lied.« Nowotny ließ sich auf dem Schemel nieder. »Es ist eine Ode an den Frühling und eine neue Liebe. Also sehr schön für ein junges Mädchen.« Er setzte die Brille auf, die an einer Kordel um seinen Hals hing, und nahm sie wieder ab. »Im nächsten Jahr findet im Rudolfinum ein Konzert zu Ehren Berlioz’ statt. Ich dachte, die Villanelle könnte dein erster Soloauftritt werden.«
Eva öffnete den Mund, um ihn zu korrigieren, und schloss ihn wieder, als er ungeduldig mit der Hand wedelte.
»Die Kinderwettbewerbe zählen nicht.«
Kinderwettbewerbe? Hatte sie nicht jeden von ihnen gewonnen? Sogar der prestigeträchtige Antonín-Dvořák-Preis für junge Künstler war darunter gewesen. Ein Bild blitzte vor ihr auf. Darauf hob sie strahlend ihre Trophäe, einen schweren Notenschlüssel aus Messing, hoch. Im Geist hörte sie den tosenden Beifall.
Nowotny stellte das Notenheft auf. »Ich spiele dir etwas daraus vor. Bitte schlag die Seiten für mich um.« Wieder setzte er die Brille auf.
Eva trat näher an ihn heran und bezwang ihre Ungeduld, doch inwendig flehte sie ihn an, ihr nur einige Takte vorzuspielen.
Nowotny war ein strenger Lehrmeister, aber sie sagte sich immer, dass er das nur war, weil er an ihr Talent glaubte und sie zu Höchstleistungen antreiben wollte. Und sie war auch stets bereit, ihr Bestes zu geben, doch nun zeigte die Uhr bereits zwanzig vor fünf, und ausgerechnet an diesem Tag durfte sie nicht zu spät nach Hause kommen.
»Wenn du darauf achtest, hörst du, wie die Liebenden durch den Wald gehen und wilde Erdbeeren pflücken.«
Bei dem Wort »Liebenden« errötete Eva. Manchmal sprach Nowotny mit ihr, als wäre sie nicht erst sechzehn Jahre al