: Ulrike Renk
: Jahre aus Seide& Zeit aus Glas
: Aufbau Verlag
: 9783841227034
: 1
: CHF 13.60
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 1023
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

Die ersten beiden Romane der großen Seidenstadt-Saga erstmals in einem E-Book.

Jahre aus Seide.
1932: Ruth hat eine unbeschwerte Jugend. Die meiste Zeit verbringt sie in der Villa des benachbarten Seidenhändlers Merländer. Sie ist fasziniert von den kunstvoll bedruckten Stoffen, lernt Schnittmuster zu entwerfen und Taschen und Zierrat zu fertigen. Und sie begegnet Kurt, ihrer ersten großen Liebe. Als die Nazis an die Macht kommen, scheint es für sie keine Zukunft zu geben, denn sie sind beide Juden. Kurts Familie trägt sich mit dem Gedanken auszuwandern, auch Ruth soll gegen ihren Willen ihr Elternhaus verlassen. Und dann kommt der Tag, an dem das Schicksal ihrer Familie in Ruths Händen liegt ...

Zeit aus Glas.
1938: Nach der Pogromnacht ist im Leben von Ruth und ihrer Familie nichts mehr, wie es war. Die Übergriffe lasten schwer auf ihnen und ihren Freunden. Wer kann, verlässt die Heimat, um den immer massiveren Anfeindungen zu entgehen. Auch die Meyers bemühen sich um Visa, doch die Chancen, das Land schnell verlassen zu können, stehen schlecht. Vor allem wollen sie eines: als Familie zusammenbleiben. Dann passiert, wovor sich alle gefürchtet haben: Ruths Vater wird verhaftet. Ruth sieht keine andere Möglichkeit, als auf eigene Faust zu versuchen, ins Ausland zu kommen: Nur so, glaubt sie, ihren Vater und ihre Familie retten zu können ...

Eine dramatische Familiengeschichte, die auf wahren Begebenheiten beruht.



Ulrike Renk, Jahrgang 1967, studierte Literatur und Medienwissenschaften und lebt mit ihrer Familie in Krefeld. Familiengeschichten haben sie schon immer fasziniert, und so verwebt sie in ihren erfolgreichen Romanen Realität mit Fiktion.

Im Aufbau Taschenbuch liegen ihre Australien-Saga, die Ostpreußen-Saga, die Seidenstadt-Saga, die große Berlin-Saga um die Dichterfamilie Dehmel und zahlreiche historische Romane vor.

Mehr zur Autorin unter www.ulrikerenk.de

Kapitel 1
Oktober 1926


Ruth drückte sich die Nase an der kalten Fensterscheibe platt; es war Freitagabend, und ihr Vater würde endlich wieder nach Hause kommen. Die Woche über war er unterwegs gewesen und hatte seine Schuhkollektion vorgestellt.

»Ruth?«, hörte sie ihre Mutter fragen. »Wo bist du?«

»In der Diele, ich warte auf Vati.«

»Es kann noch dauern, bis er kommt.«

»Aber es ist Freitag, und gleich wird es dunkel. Wir wollen doch mit ihm zusammen die Kerzen anzünden!«

Martha lächelte und drückte ihre Tochter an sich. »Ach, du weißt doch, Vati ist das nicht so wichtig.«

»Wirst du es ihm erzählen?«, fragte Ruth leise und kuschelte sich an ihre Mutter.

»Ja, Ruth, natürlich. Aber er wird bestimmt nicht schimpfen, sondern sich freuen, dass nicht mehr passiert ist.«

»Glaubst du wirklich?«

»Ja, das tue ich.« Martha strich ihr beruhigend über die Haare. Karl würde allerdings sehr besorgt sein, doch das musste ihre Tochter nicht wissen.

»Jetzt aber los, bevor Vati kommt, müsst ihr noch baden. Und wenn ihr fertig seid, können wir schon einmal die Kerzen anmachen.«

»Auja!«, rief Ruth begeistert. »Und dann erzählst du uns eine Geschichte.«

Martha sah ihrer Tochter hinterher, die eilig durch den Flur Richtung Badezimmer lief, wo Leni, das Kindermädchen, sicher schon die Wanne eingelassen hatte und mit Ilse, der Jüngsten, auf sie wartete.

Dann ging ihr Blick wieder zur Straße. Langsam begann es zu dämmern, und die wenigen Laternen, die den Bürgersteig säumten, gingen an. Bestimmt würde Karl erst lange nach Sonnenuntergang kommen. Kurz nach dem Großen Krieg hatte Karl begonnen, seine Schuhkollektionen am ganzen Niederrhein zu vertreiben. Er hatte einen guten Blick für die kommende Mode. Die Schuhe, die er im Frühjahr und Herbst bei den Herstellern kaufte, waren sehr beliebt, und über die Jahre hatte er sein Geschäft immer weiter ausbauen können. Am Anfang reiste er mit dem Zug, mittlerweile besaß er ein Automobil. Für Martha ein erneuter Anlass zur Sorge, denn von Rudi Becker, dem Chauffeur, den Karl hatte anstellen müssen, weil er wegen seiner starken Kurzsichtigkeit nicht selbst fahren konnte, hielt sie nicht viel.

Martha seufzte, sie hatte sich abgewöhnt, auf Karl zu warten. Am Anfang ihrer Ehe war es schwerer gewesen. Sechs Jahre waren sie nun verheiratet, und seit sechs Jahren wohnten sie hier in diesem Haus auf der Drießendorfer Straße. Sie hatten damals verzweifelt nach einer schönen Wohnung zur Miete gesucht, doch ohne Erfolg. Vielen Vermietern waren sie zu jung gewesen, einige wollten sie nicht haben, weil sie jüdisch waren. Immer noch war Martha darüber verwundert. Was machte es für einen Unterschied, welchen Glauben sie hatte? Sie waren Juden, pflegten aber nur oberflächlich die Traditionen, vor allem Karl legte auf alles Religiöse wenig Wert. Den Samstag, den Sabbat, nutzte er, um seine Buchführung auf Vordermann zu bringen. Nur hin und wieder begleitete er sie und die Kinder in die Synagoge. So war das bei vielen Juden in Krefeld – die meisten jüdischen Rituale passten kaum noch in das moderne Leben, das sie führten.

Als die Wohnungssuche erfolglos blieb, wurde Karl das Haus in der Drießendorfer Straße an