November1990
Julia Durant besuchte den Friedhof zweimal pro Monat. Höchstens. Auch wenn ihre Zeit es vielleicht erlaubt hätte, öfter zu kommen, sie konnte es nur schwer ertragen. Wie jedes Mal stellte sie eine frische Grabkerze in das bronzefarbene Gehäuse, das zwischen den Pflanzen auf einer Marmorplatte stand. Um frische Blumen kümmerte sich jemand anderes, und das war ihr sehr recht. Das Feuerzeug brauchte im auffrischenden Wind einige Anläufe, und sie musste die Kerze mit der Hand abschirmen, damit sie nicht ausgeblasen wurde. Endlich flackerte warmes Licht auf. Ein Funken Hoffnung in der einsetzenden Dämmerung. Ein bisschen Wärme in dem durchdringenden Novemberregen, der sich wohl schon bald in Schneeflocken verwandeln würde.
Durant wäre gern noch ein paar Minuten geblieben, doch das Wasser durchdrang bereits ihre Jeansjacke. Sie zog den Kragen zum wiederholten Mal nach oben und folgte dem Schotterweg in Richtung Friedhofspforte. Der Wind peitschte ihr den Regen ins Gesicht. Die Tropfen trafen die Haut wie Nadelstiche, aber sie ertrug es. Wenigstens würde so niemand ihre Tränen sehen, denen sie nun ohne Hemmung ihren Lauf lassen konnte.
Vor zwei Jahren war es geschehen. Das Schicksal hatte mit all seiner Härte zugeschlagen und einer jungen Frau von Mitte zwanzig die Mutter genommen. Sie hätte nicht zu sagen vermocht, was dabei am schlimmsten war. Die Tatsache, dass ihre Mutter mit ihrer verdammten Kettenraucherei dieses Schicksal förmlich heraufbeschworen hatte? Das kalte Grau, welches von ihrer Haut, ihren Augen und am Ende von ihrem ganzen Wesen Besitz ergriffen hatte wie ein Schatten, der ihr das Leben aussaugte? Oder waren es die Wut und Verzweiflung darüber, dass kein Gebet, keine Tränen und kein Flehen geholfen hatten? Julias Mutter war am Ende ihres Todeskampfes kläglich erstickt, und hätte man sie gelassen, sie hätte ihr letztes Röcheln mit einer Ladung Teer und Nikotin versehen. In Momenten wie diesen fühlte Julia sich schuldig, dass sie selbst diesem Laster verfallen war. Sie hasste es, manchmal verachtete sie sich sogar, aber meistens genoss sie es viel zu sehr. Und zum Aufhören war immerhin noch jede Menge Zeit.
Vor einer Woche war die Kommissarin siebenundzwanzig geworden. Wieder ein Jahr. Und wieder ein Geburtstag ohne Mama. Sie hatte ohne ihre Mutter Hochzeit gefeiert, und sie würde ohne sie Kinder bekommen. Enkel, einen Jungen und ein Mädchen, auch wenn man das vorher nicht festlegen konnte. Aber genauso hatte Mama es sich immer gewünscht.
Nein. Julia Durant würde sie niemals dafür hassen können, Lungenkrebs bekommen zu haben. Zu viele Menschen bekamen auch ohne Rauchen Krebs. Julia liebte ihre Mutter, und das würde für immer so bleiben.
Der Fahrersitz sowie die Türverkleidung des Renault waren durchnässt, sie hatte vergessen, nach ihrer letzten Zigarette den Schlitz des Wagenfensters zu schließen. Nun hatte es hineingeregnet. Einen stummen Fluch auf den Lippen, kurbelte sie das Fenster nach oben, rubbelte das Polster mit der Jeansjacke ab, ließ sich anschließend auf den Sitz sinken und startete den Motor. Während das Gebläse warme Luft in den Innenraum beförderte, entzündete sie sich eine Gauloise, schloss die Augen und inhalierte tief. Der Regen trommelte noch ans Fenster, deshalb öffnete sie nur einen kleinen Spalt, gerade so weit, dass sie die Spitze ihres Glimmstängels zum Aschen hinausstrecken konnte. Denn ihr Vater, ein allseits geschätzter Pastor, hatte es noch nie leiden können, wenn man in der Enge eines Fahrzeugs auch noch rauchte. Und da sie sich schon nicht an dieses Gebot hielt, hatte sie sich zumindest geschworen, den Aschenbecher niemals zu entweihen.
Ein dicker Tropfen traf die Glut, die mit einem wütenden Zischen erlosch. Sie murrte und ließ die kaum zur Hälfte gerauchte Zigarette fallen. Dann eben nicht. Es war beinahe, als habe der liebe Gott mit seinem Finger …
Julia Durant setzte den Blinker, warf einen Blick durch die beschlagene Heckscheibe und setzte den Renault in Bewegung. Der Verkehr war nicht dicht. Sie schaltete das Radio ein. Hörte einen Song von R.E.M. zu Ende, danach folgten Werbespots und anschließend die Nachrichten. Es schien, als befände sich die ganze Welt am Abgrund. Überall Hunger, überall Krieg, überall errangen aggressive Machthaber die Kontrolle und riefen zum Kampf gegen ihre Widersacher auf. Es gab Massenmorde und Gewaltexzesse. Die Leidtragenden waren wie immer Frauen und Kinder. Verfolgt. Vergewaltigt. Freiwild für Soldaten und Milizen, von denen manche einst Nachbarn oder gar Freunde gewesen waren. Ein Kloß formte sich in ihrem Hals, und sie wollte das Radio ausschalten, als die Lokalnachrichten etwas meldeten, was sie hellhörig werden ließ.
Wenige Minuten später erreich