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Ich hätte die Espressomaschine im Schlaf bedienen können. Wirklich, würde mein Mitbewohner mich nachts wecken und rufen: »Carli, ein Notfall, Angela Merkel steht im Café und braucht sofort einen Cappuccino, sonst bricht der nächste Weltkrieg aus!«, ich wäre, noch träumend, zur Kaffeemaschine gewankt, hätte nach dem Kännchen gegriffen und die kühle Milch perfekt aufgeschäumt, das Kaffeesieb gefüllt, es eingedreht und den richtigen Knopf gedrückt. Und mit Sicherheit hätte ich auch noch ein hübsches Blättchen in die Milchhaube gezaubert – oder ein Herz, was bei einem drohenden Krieg vielleicht die passendere Botschaft senden würde.
Wenn man in einem Café groß geworden war, dort unzählige Nachmittage verbracht und die Großeltern genau im Blick gehabt hatte, mit ihren an der Kaffeemaschine werkelnden Händen, wie sie einen perfekt geschichteten Latte macchiato zauberten oder einen sahneliebenden Gast mit ihrem samtigen Milchschaum zum Milchcappuccino-Trinker konvertierten, wenn man schon mit fünf seine erste Sucht entwickelt hatte nach der wohl besten heißen Schokolade der Welt – dann hatte man vermutlich keine andere Chance, als irgendwann selbst das Jucken in den Fingern zu verspüren und sich an die silbern glänzende Maschine zu wagen. Mit zwölf durfte ich es zum ersten Mal versuchen, mit sechzehn hatte ich einen Schülerjob im Café. Vierzehn Jahre und ein abgebrochenes Studium später stand ich nun wieder hier. Was sich seither an mir verändert hatte, mal abgesehen von der Verschiebung meiner Sucht von heißer Schokolade hin zu Caffè Latte? Das war genau die Frage, die mir tagtäglich beim Aufwachen wie eine nervige Motte durch den Kopf flirrte und schleunigst von mir weggepustet wurde, mal mehr, mal weniger erfolgreich.
Fritzi, mit der ich mir die Schicht teilte, kam hinter die Theke gelaufen und stieß mich mit dem Ellbogen an, wobei sie beinahe meinen kostbaren ersten Kaffee des Tages verschüttete.
»Carli, dein Freund ist da.«
Ich verzog den Mund, sodass nur Fritzi es sehen konnte, als die vertraute Gestalt langsam durch die Tür des Cafés hereinschlurfte.
»Johan, machst du mir ein Croissant mit Marmelade fertig?«, rief ich durch die Öffnung der Durchreiche in die Küche und erhielt ein Grunzen zur Antwort. Auch in der Küche war wohl dringender Kaffeenachschub gefragt. Johan kochte besser als jeder andere, den ich kannte, selbst besser als Nonna, meine italienische Großmutter, und das hieß einiges. Allerdings litt er unter andauernder Grummeligkeit, die nur durch eine ausgewogene Kaffeeinfusion gemäßigt werden konnte.
Ich ließ also gleich zwei Espressi durch die Maschine laufen. Während sie ihren Dienst tat, drehte ich mich zum Gastraum um und ließ den Blick von Tisch zu Tisch wandern. Alles hier war in gedeckte Farben getaucht und hob sich darin von den luftigen, hellen Hipstercafés ab, die neuerdings überall aus dem Boden schossen. Doch auch wenn unser Café damit eher die ältere Schicht von Marburg anziehen mochte, verströmten die Wände mit ihren dunkelgrün geblümten Tapeten, die Möbel in tiefem Eichenbraun und das glänzende, wenn auch schon mitgenommen ächzende Holzparkett die Gemütlichkeit eines eingelebten Wohnzimmers. Die Deckenlampen aus Messing unter den grünen Schirmen waren eingeschaltet, sie tauchten die dunklen Möbel in warmes Licht und ließen dem Grau von draußen keinen Schlupfwinkel. Unterstützt wurden sie von den weißen Kerzen, die auf jedem der Tische in bronzenen Haltern brannten. Hinter den Fenstern zeigte sich das Marburger Wetter über dem Marktplatz wieder einmal von seiner unschönen Seite, was die Behaglichkeit hier d