Prolog
Cincinnati, Ohio
Samstag,9. März,01.30 Uhr
Lauf. Sieh dich nicht um. Lauf einfach.
Michael Rowland biss die Zähne zusammen, als sich die scharfkantigen Steine und Äste schmerzhaft in seine Fußsohlen bohrten, während er Joshua fester an sich drückte und so schnell rannte, wie er nur konnte.
Er blinzelte gegen die Tränen an und konzentrierte sich einzig auf das Ende der Einfahrt am Fuß des steilen Hügels.
Zur Straße.
Und dann? Er hatte keine Ahnung. Das würde er sich überlegen, wenn er dort war.
Genau wie alles andere.
Aber wo ist »dort« überhaupt?
Still jetzt. Weiterlaufen.
Er widerstand dem Drang, sich umzudrehen, weil er nicht ganz sicher war, ob er Brewer tatsächlich bewusstlos geschlagen hatte oder nicht. Aber selbst wenn, würde Brewer wieder zu sich kommen und ihnen folgen. Sich umzudrehen und nachzusehen, brachte ihn nicht weiter, sondern kostete bloß wertvolle Zeit und machte es Brewer dadurch leichter, sie einzuholen.
Er wird mich umbringen, dachte Michael. Daran bestand kein Zweifel. Aber Joshua würde er noch viel Schlimmeres antun. Und Joshua war erst fünf. Deshalb rannte Michael weiter.
Er näherte sich der Ansammlung von Bäumen, die Joshua immer den »Wald« nannte. Einst ein Obstgarten, war er mittlerweile hoffnungslos verwildert, nichts als ein Gewirr aus Ästen und Zweigen und Brombeergestrüpp, das nahezu alles überwucherte.
Diese blöden Brombeersträucher. Inzwischen blutete er an beiden Füßen. Egal. Die Erleichterung über den Schutz der Bäume ließ ihn den Schmerz kurz vergessen.Los, weiter.Lauf weiter.
Er zog das Tempo an, tauchte behände unter den tief hängenden Ästen durch, heilfroh, dass sein Fußballtrainer der Mannschaft regelmäßig Beweglichkeitsübungen aufs Auge gedrückt hatte. Michael war schnell – der Schnellste im Team, obwohl er der Jüngste war. Trotzdem musste er jetzt noch einen Zahn zulegen.Bitte, mach, dass ich schneller bin.
Das Flackern der Lampe am Ende der Einfahrt schien etwas näher gekommen zu sein, auch wenn es im Dickicht kaum zu sehen war. Die Hälfte des Wegs hatte er hinter sich. Noch eine Viertelmeile.
Er spürte den Zug an seinem Fuß den Bruchteil einer Sekunde, bevor er ausgehebelt wurde und in hohem Bogen nach vorn fiel.
Joshua.
Im letzten Moment drehte er sich zur Seite, schlug hart mit der Schulter auf dem Boden auf. Er unterdrückte ein Stöhnen, als der Schmerz durch seine Schulter schoss und ihn der Schwung des Falls auf den Rücken warf und weiter auf die andere Seite rollen ließ, wo er, die Arme immer noch fest um Joshua geschlungen, mühsam auf die Ellbogen kam.
Blinzelnd holte er Luft, sammelte sich und beugte sich schützend über Joshua, für den Fall, dass Brewer ihnen bereits auf den Fersen war. Doch es kam nichts, keine Schläge, keine Tritte.
Nichts.
Michael hob den Kopf und sah sich um. Niemand war hinter ihm. Vielleicht war es ja gar nicht Brewer gewesen, der ihn gepackt hatte.Vielleicht bin ich bloß über eine Wurzel gestolpert.
Also hatte er Brewer ja vielleicht doch ausgeknockt. Der Gedanke erfüllte ihn mit grimmiger Befriedigung.
Er sah auf Joshua hinab. Der Kleine war immer noch bewusstlos … nicht tot, aber er stand unter Drogen. Was mochte in der Spritze gewesen sein, die der elende Dreckskerl seinem kleinen Bruder gegeben hatte? Michael schickte ein kurzes Dankesgebet gen Himmel, weil er vor dem Zubettgehen noch eine Limo getrunken hatte. Hätte er nicht zur Toilette gemusst, wäre er nicht wach gewesen und hätte nicht gesehen, wie Brewer Joshua die Nadel in die Haut drückte.
Mit gerunzelter Stirn blickte er auf Joshuas friedliches Gesicht.Sollte ich ihn lieber ins Krankenhaus bringen? Aber er wusste nicht so genau, wie er das anstellen sollte. Auch das würde er erst herausfinden müssen – sobald sie weit genug von Brewers Haus weg waren.
Er blickte noch einmal auf Joshuas Brust, die sich hob und senkte.Wenigstens ist er nicht tot.
Michael war zuvor mit verschwommenem Blick die Treppe hinuntergetaumelt – Brewer hatte ihm einen heftigen Schlag gegen die Schläfe ver