1 Versteckt
Die Geschichte, die sich direkt vor unserer Nase vollzieht, sollte eigentlich am klarsten sein, und doch ist sie am schwierigsten zu fassen.
Julian Barnes,Vom Ende einer Geschichte[2]
1.
Brooklyn, Herbst 2010
Vor einem halben Jahr, am 12. April 2010, wurde meine dreijährige Tochter Carrie Conway entführt, als wir beide in meiner Wohnung in Williamsburg Verstecken spielten.
Es war ein schöner Nachmittag, hell und sonnig, wie New York im Frühling viele zu bieten hat. Getreu meiner Gewohnheit hatte ich Carrie zu Fuß von ihrer Vorschule abgeholt, der Montessori School am McCarren-Park. Auf dem Rückweg hatten wir beiMarcello’s haltgemacht, um ein Früchtekompott und ein Cannolo, sizilianisches Gebäck mit Zitronenfüllung, zu kaufen. Während Carrie beides verspeiste, hüpfte sie fröhlich neben ihrem Buggy her.
Zu Hause, am Eingang des Lancaster Building, Berry Street 396, angekommen, schenkte der neue Portier, Trevor Fuller Jones, der erst seit knapp drei Wochen hier Dienst tat, Carrie einen Honig-Sesam-Lutscher, allerdings verbunden mit dem Versprechen Carries, nicht gleich alles aufzuessen. Dann meinte er, es sei doch ein großes Glück, eine Schriftstellerin als Mama zu haben, weil sie ihr sicher beim Zubettgehen schöne Geschichten erzählte. Lachend wies ich ihn darauf hin, dass er, um so etwas sagen zu können, wohl noch nie einen Blick in einen meiner Romane geworfen habe, was er auch zugab.
»Das stimmt, ich habe keine Zeit zum Lesen, Mrs Conway«, behauptete er.
»Sie nehmen sich nicht die Zeit, Trevor, das ist nicht dasselbe«, antwortete ich ihm, während sich die Aufzugtüren schlossen.
Wie es unser bewährtes Ritual verlangte, hob ich Carrie hoch, damit sie auf den Knopf für die sechste und oberste Etage drücken konnte. Die Kabine setzte sich mit einem metallischen Knarren in Bewegung, das uns beide inzwischen nicht mehr erschreckte. Das Lancaster war ein altes Gebäude in Gusseisen-Architektur, das gerade renoviert wurde. Ein unglaublicher Palast mit großen, von korinthischen Säulen umrahmten Fenstern. Früher hatte es einmal als Lager für eine Spielzeugfabrik gedient, die es seit Anfang der 1970er-Jahre nicht mehr gab. Aufgrund der Deindustrialisierung hatte das Gebäude beinahe dreißig Jahre lang leer gestanden, bis man es schließlich zum Wohnhaus umbaute, als es Mode wurde, in Brooklyn zu wohnen.
Sobald wir das Apartment betraten, zog Carrie ihre kleinen Turnschuhe aus, um in ihre hellrosa Hausschuhe mit Bommeln zu schlüpfen. Sie folgte mir zur Stereoanlage, schaute zu, wie ich eine Schallplatte auflegte – das Klavierkonzert in G-Dur von Ravel – und den Tonabnehmer beim zweiten Satz aufsetzte. Vor Vorfreude auf die Musik, die gleich ertönen würde, klatschte sie in die Hände. Anschließend hing sie einige Minuten an meinem Rockzipfel, während sie wartete, bis ich die Wäsche fertig aufgehängt hatte, um mich dann zum Versteckspielen aufzufordern.
Es war mit Abstand ihr Lieblingsspiel. Ein Spiel, das eine große Faszination auf sie ausübte.
In ihrem ersten Lebensjahr beschränkte sich das Spiel »Kuckuck, wo bin ich« für Carrie darauf, ihre kleinen Hände mit gespreizten Fingern vor die Augen zu halten, sodass diese nur halb verdeckt waren. Ich verschwand für wenige Sekunden aus ihrem Blickfeld, bis mein Gesicht wie durch Zauberei wieder vor ihr auftauchte, woraufhin sie in lautes Lachen ausbrach. Mit der Zeit hatte sie schließlich das Prinzip, sich selbst zu verstecken, in ihr Spiel integriert. Sie verkroch sich hinter einem Vorhang oder unter einem niedrigen Tisch. Immer schaute jedoch ein Stück ihres Fußes, ein Ellenbogen oder ein nur halb angewinkeltes Bein heraus, um ihre Anwesenheit zu signalisieren. Gelegentlich, wenn sich das Spiel zu lange hinzog, wedelte sie sogar mit der Hand, damit ich sie schneller fand.
Je größer sie wurde, desto komplexer wurde das Spiel. Carrie hatte sich andere Zimmer der Wohnung erschlossen, was die Möglichkeiten vervielfachte: hinter einer Tür kauernd, zusammengerollt in der Badewanne, unter der Bettdecke verborgen, flach unter ihrem Bett liegend.
Auch die Regeln hatten sich verändert. Das Verstecken war inzwischen eine ernste Angelegenheit.
Bevor ich sie zu suchen begann, musste ich mich nun zur Wand drehen, die Augen schließen und laut und deutlich bis zwanzig zählen.
Genau das tat ich an diesem Nachmittag des zwölften April, während die Sonne hinter den Wolkenkratzern strahlte und die Wohnung in einem warmen, fast unwirklichen Licht badete.
»Nicht schummeln, Mummy!«, schimpfte sie, obwohl ich das Ritual genau befolgte.
Die Hände vor den Augen, begann ich in meinem Zimmer laut zu zählen, nicht zu langsam, nicht zu schnell.
»Eins, zwei, drei, vier, fünf …«
Ich erinnere mich genau an das gedämpfte Geräusch ihrer kleinen Schritte auf dem Parkett. Carrie hatte den Raum verlassen. Ich hörte, wie sie das Wohnzimmer durchquerte, den Eames-Sessel zur Seite schob, der vor der großen Glaswand thronte.
»… sechs, sieben, acht, neun, zehn …«
Alles war gut. Meine Gedanken schweiften ab, getragen von den kristallklaren Klängen, die aus dem Wohnzimmer herüberkamen. Meine Lieblingsstelle in diesem Adagio. Der Dialog zwischen Englischhorn und Klavier.
»… elf, zwölf, dreizehn, vierzehn, fünfzehn …«
Eine lange dahinperlende musikalische Phrase, die mit einem sanften Regen verglichen worden war, gleichmäßig und ruhig.
»… sechzehn, siebzehn, achtzehn, neunzehn, zwanzig.«
Augen auf.
2.
Ich öffnete die Augen und verließ den Raum.
»Achtung, aufgepasst, Mummy kommt!«
Ich ließ mich auf das Spiel ein. Lachend übernahm ich die Rolle, di