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Adeline
Adeline Swift telefonierte gerade mit der Kulturredakteurin vonWoman Now, als der Brief unter ihrer Wohnungstür durchgeschoben wurde.
»Die Sache ist die«, sagte Erin, »deine Ratgeberkolumne wird von allen Rubriken der Zeitschrift am meisten gelesen. Die Leute scheinen wirklich darauf zu reagieren. Auf dich. Unsere jüngste Marktbefragung ergab, dass siebzig Prozent der Leserinnen lieber dich um Rat fragen würden als ihre beste Freundin. Kannst du dir das vorstellen?«
Ja, das konnte sie sich vorstellen. Nur wenige Menschen landeten ohne emotionale Altlasten im Erwachsenenleben. Verletzung. Ablehnung. Scham. Enttäuschung. Trauer. Reue. Das Leben hinterließ Narben, und man musste einen Weg finden, mit diesen Narben zu leben. Manche Menschen wählten die Strategie der Verleugnung.Ignoriere es. Lass es in der Vergangenheit. Mach weiter. Andere nahmen diese Emotionen in Angriff und verbrachten Stunden in Therapie, um zu verstehen, wie die Vergangenheit die Gegenwart beeinflusste, und irgendwann einen Punkt der Akzeptanz zu erreichen. Die meisten schlugen sich einfach allein durch, gingen voran und stolperten gelegentlich, durchschritten die Höhen und Tiefen des Lebens, so gut sie eben konnten. Nach ein paar Drinks zu viel vertrauten sie sich vielleicht einem Freund an, doch meistens sagten sie nichts. Schließlich war es ein Risiko, diese tiefen Geheimnisse und Ängste, diese persönlichsten Teile seines Selbst zu offenbaren. Es bedeutete:Dies ist der Mensch, der ich wirklich bin, statt:Dies ist der Mensch, der ich vorgebe zu sein.
Es waren diese Menschen, die allein mit ihren Ängsten blieben, die Adeline oft schrieben.
Liebe Dr. Swift …
Sie breiteten ihre Probleme aus in der Hoffnung, dass Adeline in ein paar wohlgesetzten Worten ihre Krise löste oder ihnen zumindest zu einem besseren Gefühl verhalf.
Adeline lieferte eine besonnene Analyse, Mitgefühl und ein paar aufmunternde Worte. Wenn sie an ihren Antworten feilte, ließ sie eine Mischung aus Empathie, Lebenserfahrung und Direktheit einfließen. Sie übernahm die Rolle einer mitfühlenden Fremden, die zuhörte, ohne zu bewerten, und die die Anonymität respektierte. Doch diese Rolle bedeutete, dass sie in einer Welt von Problemen lebte. An jedem Arbeitstag war sie von den Herausforderungen des Lebens umgeben, ertrank im Schmerz anderer Menschen und musste sich von Untreue bis Arbeitslosigkeit mit jedem Kummer auseinandersetzen. Wenn Menschen sie fragten, wie sie damit fertigwurde, wies sie darauf hin, dass es leicht war, mit einem Drama fertigzuwerden, das nicht das eigene Drama war.
Wenn es um ihr eigenes Drama ging? Das war etwas anderes.
Sie starrte auf den Umschlag
Er lag unschuldig auf dem Boden, das strahlende Weiß hob sich von den breiten Eichendielen ab. Auch ohne ihn aufzuheben, bemerkte sie das hochwertige geprägte Papier. Name und Adresse waren in einer geschwungenen Schrift verfasst, die sie sofort erkannte.
Ihr Herz schlug etwas schneller. Emotionen wallten in ihr auf und drohten sie wie eine Windbö umzuwerfen. Sie legte die Hand aufs Zwerchfell und zwang sich, langsam zu atmen. Sie war eine Erwachsene mit eigenem Leben, einem guten Leben, und dennoch raubte ihr dieses kleine leblose Objekt die Ruhe des Tages.
Dabei hatte sie den Umschlag noch nicht einmal aufgemacht.<