: Lisa Wingate
: Die Glasperlenmädchen Roman
: Limes
: 9783641268916
: 1
: CHF 8.70
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 528
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Eine Familie getrennt durch die Wirren des Kriegs und eine mitreißende Suche, die ein ganzes Jahrhundert umspannt.
1987: Als die Lehrerin Benedetta das erste Mal die Schule in Augustine, Louisiana, betritt, ist nichts wie erwartet - schon gar nicht ihre Schüler. Erst als sie die Klasse für ihre eigene Vergangenheit begeistert, beginnen die Kinder ihr zu vertrauen. Gemeinsam erforschen sie die Geschichte des Ortes und stoßen dabei auf eine alte Vermisstenanzeige.
1875: Nachdem der Bürgerkrieg das Land verwüstet hat, werden drei Frauen auf ihrer Reise zu Weggefährtinnen: Lavinia, die Tochter weißer Plantagenbesitzer, ihre Halbschwester Juneau Jane sowie Hannie, eine ehemalige Sklavin. Während Lavinia und Juneau um ihr Erbe kämpfen, sucht Hannie nach ihrer Familie, die einst von Sklavenhändlern verschleppt wurde. Nur drei blaue Glasperlen und eine Zeitungsannonce sind ihr als Mittel geblieben, um ihre Liebsten wiederzufinden ...

Nach »Libellenschwestern« endlich der neue bewegende Roman von SPIEGEL-Bestsellerautorin Lisa Wingate - inspiriert von einer wahren Begebenheit!

Die Amerikanerin Lisa Wingate, geboren im rheinischen Landstuhl, ist Journalistin und Autorin mehrerer preisgekrönter Romane. Ihren großen Durchbruch feierte sie mit »Libellenschwestern«. Der Roman führte nicht nur die »New York Times«-Bestsellerliste über ein Jahr hinweg an, er eroberte auch die SPIEGEL-Bestsellerliste sowie Tausende Leserherzen im Sturm. Die Autorin lebt in den Ouachita Mountains in Arkansas, USA.

KAPITEL1


Hannie Gossett


LOUISIANA, 1875

Der Traum kommt mitten im seelenruhigen Schlaf, wie so viele Male zuvor, erfasst mich wie ein Staubwedel die Flusen in vergessenen Ecken. Schon schwebe ich dahin, zwölf Jahre in die Vergangenheit, aus dem Körper einer fast erwachsenen Frau in den einer Sechsjährigen, sehe das Bild, das sich in meine Augen damals eingebrannt hat.

Käufer versammeln sich auf dem Hof des Sklavenmarkts, als ich durch die Lücken im Staketenzaun des Verschlags spähe. Der Boden unter mir ist eiskalt, festgetrampelt von zahllosen Füßen, die vor mir hier gestanden haben – große Füße wie die von meiner Mama, aber auch kleine wie meine eigenen und die von Mary Angel. Zehen und Hacken, die tiefe Dellen und Furchen im Matsch hinterlassen haben.

Wie viele haben hier schon vor mir gestanden?, überlege ich.Wie viele Menschen, mit hämmernden Herzen und angespannten Muskeln, aber ohne die Chance zu entkommen?

Hundert könnten es gewesen sein, vielleicht sogar noch mal hundert oder Hunderte mehr. Überall Fußabdrücke, paarweise Fersen, zehnerweise Zehen. So weit kann ich noch gar nicht zählen. Erst vor wenigen Monaten bin ich sechs geworden. Jetzt istFeb-Feb-u-bah-bah, ein Wort, das ich nicht richtig aussprechen kann, deshalb hört es sich an wie das Blöken eines Schafs. Meine Geschwister ärgern mich ständig damit, alle acht, sogar die jüngeren. Meistens haben wir miteinander gerangelt, wenn Mama bei der Arbeit auf dem Feld oder im Spinnhaus war, wo sie die Wolle verzwirnen und weben. Dann hat jedes Mal unsere ganze Holzhütte gewackelt und gebebt, bis einer durchs Fenster oder zur Tür rausgefallen ist und zu weinen angefangen hat. Worauf natürlich Ol’Tati mit dem Rohrstock angelaufen gekommen ist und geschimpft hat: »Wenn ihr elenden Bälger nicht gleich Ruhe gebt, setzt es ’ne anständige Tracht Prügel.« Sie hat uns spielerisch Klapse auf den Hintern und die Beine verpasst, und wir sind weggerannt und dabei übereinander drüber gefallen wie eine Horde kleiner Ziegen, die durchs Tor drängeln. Wir haben uns unter den Betten versteckt, aber es hat nichts genützt, weil hier ein Ellbogen, da ein Knie vorgelugt hat.

Aber damit ist längst Schluss. Alle von Mamas Kindern wurden fortgebracht, einzeln oder zu zweit. Jenny Angel und drei ihrer vier Mädchen sind auch weg, verkauft auf Sklavenmärkten wie diesem hier, von Süd-Louisiana bis fast rüber nach Texas. Ich muss mich anstrengen, um mich zu erinnern, wohin es uns alle verschlagen hat. Jeden Tag ist unsere Familie weiter geschrumpft, während wir hinter Jep Loachs Karren herschlurfen mussten – die erwachsenen Sklaven mit Ketten um die Handgelenke, während uns Kindern nichts anderes übrig blieb, als ihnen zu folgen.

Am schlimmsten sind die Nächte. Wir können bloß hoffen, dass Jep Loach schnell einschläft, weil er müde vom Whiskey und der langen Reise ist. Denn dann passieren die schlimmen Sachen nicht, anfangs Mama und Tante Jenny, aber jetzt nur noch Mama allein, weil Jenny weg ist. Bloß Mama und ich sind übrig. Und Aunt Jennys Jüngste, die kleine Mary Angel.

Wann immer sie kann, flüstert Mama mir die Worte ins Ohr – wem sie uns weggenommen haben, wie die Männer heißen, die sie vom Versteigerungspodest heruntergekauft und wohin sie sie gebracht haben – zuerst Aunt Jenny und ihre drei älteren Mädchen, dann meine Brüder und Schwestern, dem Alter nach sortiert.Hardy in Big Cre