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Die Ratte war krank, daran gab es keinen Zweifel. Jo beobachtete sie schon eine ganze Weile. An die Wand des Hinterhofs gelehnt, sah er zu, wie das Tier vor sich hin taumelte und sich immer wieder wie im Fieberwahn schüttelte. Die schwarzen Augen waren von einem Schleier überzogen, an der Schnauze klebte Blut.
Jo hasste Ratten, sie erinnerten ihn an die Zeit im Gefängnis, als sie im Dunkeln angefangen hatten, an seinen Zehen zu nagen. Als er klein war, hatte sich einmal eine Ratte mit ins Bett geschlichen und das Ohr seines Bruders angefressen. Noch heute konnte man den Riss sehen, wo sie ein Stück aus ihm herausgebissen hatte. Wilhelm hatte eine schreckliche Entzündung bekommen. Ihr Vater hatte einen guten Teil seines Jahresgehaltes für seine Behandlung ausgeben müssen.
Das Tier zu seinen Füßen hatte sich offenbar an den fauligen Abfällen des Viertels mehr als gütlich getan. Es war so fett, dass sein Bauch im Dreck schleifte. Die Ratten sind hier nun mal die Einzigen, die sich satt fressen können, dachte Jo verbittert und spuckte einen Krümel Tabak auf den Boden. Aber das, was er erledigen musste, gab es eben nicht in der Bellevue.
Das gab es nur hier. Im schwarzen Herzen Hamburgs.
Auf seinem Weg zu dem Haus, dessen Adresse auf einem Zettel in seiner Westentasche stand, war er an mehr Prostituierten und Bettlern vorbeigekommen, als er zählen konnte. Der Verwesungsgestank aus den Fleeten mischte sich mit dem Qualm der unzähligen Schornsteine. Verwahrloste Kinder, die auf ihren durch Rachitis krumm gewordenen Beinen kaum richtig laufen konnten, rangelten um Stöcke und leere Konservendosen. Jo wusste, wie es war, hier aufzuwachsen. Die stinkenden Gassen des Altstädter Gängeviertels zwischen Stein-, Spitaler- und Niedernstraße waren auch sein Zuhause. Allerdings gab es einen Unterschied zwischen ihm und den Kindern. Er hatte Arbeit, verdiente Geld, konnte seine Familie zumindest so weit über Wasser halten, dass seine Geschwister nicht mehr nachts vor Hunger wachlagen.
Er konnte die Angst und die Wut der Frau, die heute auf die Karstens losgehen wollte, nur zu gut nachvollziehen. Als sein Vater damals den tödlichen Unfall hatte, war er eine Weile sicher gewesen, dass sie alle sterben würden. Wenn sie sich nachts zusammendrängten und das Knurren ihrer Mägen sie wachhielt, stellte er sich vor, wie sie am Morgen erfroren und verhungert dalagen. Leni war schließlich wirklich gestorben. Sie war zu klein gewesen, ihr Körper zu geschwächt. Als der Winter kam und die Wohnung so kalt wurde, dass morgens die Decken steif gefroren waren, reichte die erste Erkältung. Sie war in den Armen seiner Mutter eingeschlafen, kaum mehr als ein Skelett mit Haut überspannt, ihre großen blauen Augen fragend auf ihn geheftet, als wollte sie wissen, warum er zuließ, dass sie so leiden musste. Es war schrecklich gewesen, die dunkelste Stunde seines Lebens. Noch heute sah