Kapitel 1
LORENA
»Genug für heute«, ertönte die Stimme der Lady in ihrem Geist. Sie sprach nur selten laut, dennoch war Lorena klar, dass sie keinen Widerspruch duldete. Das Wort der Lady war Gesetz, und niemand wagte es, sich darüber hinwegzusetzen.
Lorena betrachtete den Saum des altmodischen Gewands und traute sich nicht, die Lider weiter zu heben. Nur einmal hatte die Lady ihr gestattet, ihr Gesicht kurz anzusehen, aber ihr waren nur die Augen in Erinnerung geblieben. Das Gesicht war so zeitlos, so ohne Ecken und Kanten, dass es zu fließen schien. Der Blick jedoch war scharf und durchdringend und schien jedes noch so tief verborgene Geheimnis aufspüren zu können.
Lorena zögerte. Sie rührte sich nicht von der Stelle, obgleich sie die Aufforderung durchaus verstanden hatte. Es kostete sie all ihre Beherrschung, sich dem stillen Befehl zu widersetzen.
»Du kannst jetzt gehen!«, verdeutlichte Morla in scharfem Ton und trat zwischen Lorena und ihre Herrin, der sie bedingungslos diente. »Mylady hat dich entlassen.«
»Ich habe aber noch so viele Fragen«, beharrte Lorena, die spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach und an den Schläfen herabrann, und blieb sitzen. Ihr war klar, dass sie den Machtkampf gegen die Lady nicht gewinnen konnte, dennoch versuchte sie, so lange wie möglich standhaft zu bleiben. War sie nicht Eclipse, die lang Erwartete, die die Nachtmahre in eine neue, bessere Zeit führen sollte? Dann hatte sie auch das Recht, Fragen zu stellen und auf Antworten zu beharren!
Du bist Eclipse, und du hast das Recht, Fragen zu stellen und Antworten zu erhalten, doch für heute ist es genug. Ich werde dir rechtzeitig alles mitteilen, was du wissen musst. Geh jetzt. Es warten noch andere Aufgaben auf dich.
Wie von einer fremden Macht gesteuert, erhob sich Lorena und tappte unbeholfen auf die Tür zu, die sich vor ihr öffnete. Myladys Butler Carter hielt die Tür auf und schloss sie dann hinter ihr. Unschlüssig blieb Lorena in der Halle stehen und ließ den Blick schweifen, bis er an einer Gestalt hängen blieb.
Eine Frau saß lässig in einem mit rotem Brokat bezogenen Sessel und starrte gelangweilt vor sich hin. Als sie Lorena bemerkte, sprang sie auf. »Da bist du ja endlich. Ich dachte schon, du bleibst die ganze Nacht dort drin. Gibt es interessante Neuigkeiten?«
Lorena sah die andere Frau an und fühlte sich plötzlich erschöpft. Sie war so wunderschön, groß, schlank, rassig, mit einem schmalen Gesicht und dunklen Augen, umrahmt von dichtem, schwarzem Haar, das ihr offen über den Rücken fiel. Ihre sinnlichen Lippen waren rot geschminkt. Sie hatte sich in ihre Nachtmahrgestalt gewandelt und sah Lorena mit blitzenden Augen an.
»Raika, was tust du hier?«
»Ich habe auf dich gewartet.«
»Das sehe ich«, antwortete Lorena ein wenig zu barsch. Ihre Gefühle für Raika waren zwiespältig. Sie war der erste andere Nachtmahr, den Lorena kennengelernt hatte, doch Raikas Art, wie sie mit ihrer »Gabe«, wie sie es nannte, umging, missfiel Lorena, die es zeit ihres Lebens eher als einen Fluch empfunden hatte. Natürlich gab es Momente, da sie die Wandlung genoss und die Freiheit, die ihr die Flügel verliehen. Der Rausch des Fliegens war unglaublich! Aber Raikas skrupellose Weise, sich jeden Mann, nach dem sie gerade Appetit verspürte, untertan zu machen und dann wieder wegzuwerfen, stieß sie ab. Menschenleben waren für Raika nicht viel wert. Und außerdem hatte sie sich an Jason vergriffen!
Lorena spürte den Knoten in ihrer Brust. Nein, an Jason wollte sie jetzt nicht denken. Das war vorbei. Sie konnte sich nicht vormachen, ihn nicht mehr zu lieben. Ganz im Gegenteil. Sie liebte ihn so sehr, dass sie entschieden hatte, ihn nicht mehr zu sehen. Sie würde ihn mit ihrem Verzicht retten