: Sven Regener
: Der kleine Bruder Roman
: Eichborn AG
: 9783732504640
: Die Lehmann-Trilogie
: 1
: CHF 8.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 288
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

Berl n-Kreuzberg, November 1980: Im Schatten der Mauer gedeiht ein Paralleluniversum voller Künstler, Hausbesetzer, Kneipenbesitzer, Kneipenbesucher, Hunde und Punks. Bier, Standpunkte, Reden, Verräterschweine - alles ist da. Nur eins fehlt: jemand, der alles mal richtig durchdenkt - Frank Lehmann aus Bremen. Nachdem seine WG dort vom Gesundheitsamt geschlossen wurde, das Zimmer bei seinen Eltern zum Fernseherreparieren benötigt wird und er nach kühnem Ausbruch aus dem Wehrdienst noch keinen Plan hat, fährt er erst mal nach Berlin - zu seinem großen Bruder Manni, der dort als Künstler lebt und eine große Nummer ist. Dachte er. Doch Manni ist weg. Weder sein Vermieter Erwin Kächele noch dessen Nichte Chrissie oder sein Mitbewohner Karl haben eine Ahnung, wo Manni steckt. Außerdem nennen sie ihn nicht Manni, sondern Freddie. Und haben sofort eine konkrete Idee davon, was Frank zu tun hat: Anstelle seines Bruders an einem kurzfristig anberaumten Krisenplenum teilnehmen.

Dami beginnt eine lange Nacht, in der Frank Lehmann lernt, dass in einer Welt, in der alle Künstler sein wollen, nichts notwendigerweise das ist, als das es erscheint, und in der er mehr über seinen Bruder erfährt, als er wissen will, aber nie das, wonach er fragt.

Und mit einer Nacht ist es nicht getan, denn wie sagt Karl, der Typ, den Frank auf Anhieb nicht mag und der sein bester Freund werden wird: 'Das ist wie in der Geisterbahn. Jetzt sind alle eingestiegen, und der Bügel geht runter, und dann müssen das auch alle bis zu Ende mitmachen ...'

2. TUBASPIELEN


»Mann, bin ich froh, dass wir endlich da sind«, sagte Wolli, als sie heil und unverhaftet aus dem Grenzkontrollpunkt Dreilinden in den Westen rollten.

»Wieso da?«, sagte Frank. Die Autobahn war zwar neuerdings beleuchtet, aber sie fuhren durch dunkle Wälder. »Das sieht hier nicht gerade nach da sein aus, ich meine, das kann ja wohl nicht Berlin sein!«

»Das geht jetzt ganz schnell«, sagte Wolli, »das ist gleich vorbei mit dem Wald.«

»Bist du sicher?«

»Ja, logo«, sagte Wolli. »Ich kenn das hier ganz genau. Ich war schon oft hier.«

»Wie oft?«

»Oft, keine Ahnung, sogar früher mal mit dem KBW.«

»Warum das denn?«

»Wegen den Soldaten- und Reservistentagen. Da sind wir Kolonne gefahren. Das hat vielleicht gedauert …«

»Soldaten- und Reservistentage? Beim KBW?«

»Nee, eigentlich waren es die Musiktage der Soldaten- und Reservistenkomitees, die gehörten zum KBW, das war so mit Spielmannszug, ich war da im Spielmannszug.«

»Im Spielmannszug? Was hast du da denn gespielt?«

»Tuba!«

»Ach so …«

Sie schwiegen wieder eine Weile. Die Autobahnausfahrten waren nach Straßen benannt, Spanische Allee, Hüttenweg, das ließ immerhin vermuten, dass sie tatsächlich in der Stadt waren. Seltsame Stadt, dachte Frank, Hütten, Wege, Wälder, er hatte sich das irgendwie anders vorgestellt, irgendwie urbaner und so weiter. Aber da kam auch schon ein großer, beleuchteter Turm in Sicht, und Wolli sagte:

»Da! Der Funkturm!«

»Wir haben überhaupt keinen Stadtplan«, sagte Frank. »Und da kommt gleich ein Autobahndreieck, wo müssen wir denn da fahren?«

»Weiß ich jetzt auch nicht mehr, was steht denn da, da steht ja noch gar nichts, oder was?«

»Doch, da steht was.«

»Aber nichts von Kreuzberg oder so, das ist immer so, das steht da nicht.«

»Nein …« Frank starrte geduckt, mit eingezogenem Nacken auf die Schilder über der Autobahn. »Entweder Wedding und ICC, oder Kurfürstendamm und Wilmersdorf.«

»Scheiße, wie war das noch mal?!«, sagte Wolli.

»Was weiß ich«, rief Frank, »das teilt sich gleich, da muss man sich jetzt mal entscheiden.«

»Wedding auf keinen Fall, glaube ich nicht«, sagte Wolli, »nicht Wedding.«

»Also Kurfürstendamm oder was? Wilmersdorf? Das ist ja die einzige andere Möglichkeit. Ist ja ein Autobahndreieck, keine Autobahnkreuzung, dann gäbe es noch zwei andere Möglichkeiten. So gesehen …« – Frank verstummte, weil ihm peinlich war, was er da redete, so was kann man denken, ermahnte er sich, aber nicht sagen, man darf sich vor Wolli nicht so gehen lassen, dachte er, einer wie Wolli nutzt so was nur aus.

Vor ihnen erschien ein großes und, wie Frank fand, unglaublich hässliches Gebäude, das hell angestrahlt wurde, und es war eindeutig, dass es hier mit der Stadt langsam mal losging. Und ebenso eindeutig wurde von ihnen eine Entscheidung erwartet.

»Da vorne teilt sich das, Wolli, echt mal, was jetzt, Kurfürstendamm oder was?«

»Scheiße Kudamm, ist doch Scheiße, Kudamm.«

»Also Wedding?«

»Nee, Kudamm oder so, geht das dann rechts- oder linksrum?«

»Wie jetzt, rechts- oder linksrum? Kudamm geht links raus, ich meine, die ganz linke Spur, das siehst du doch.«

»Das hat nichts zu sagen, dann kann das immer noch hintenrum rechtsrum gehen.«

»Worum überhaupt rechtsrum?«

»Um die Stadt rechtsherum.«

»Stadt? Ha! Da seh ich aber noch nicht viel von, Stadt! Was denn für eine Stadt?! Guck dir die Scheiße doch mal an, und was denn nun, ich fahr jetzt Kudamm oder was?«

»Ja, fahr Kudamm, Scheiße!« Wo