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Im Karton unter seinem Arm hatte er die neuen Speisekarten. Die alten waren so abgegriffen, dass manche Gäste sie nur noch mit spitzen Fingern anfassten. Außerdem mussten die Preise korrigiert werden. Sie einfach zu überkleben sah nicht gut aus. Wobei die meisten Stammgäste sowieso keinen Blick in die gedruckte Speisekarte warfen. Auch lud sich kaum jemand mit demQR-Code am Tisch die digitale Version aufs Handy. Sie richteten ihr Augenmerk auf die Schiefertafel mit denplats du jour. Dort standen die täglich wechselnden Empfehlungen des Küchenchefs. Lucien hatte ein Auge drauf, denn Roland wurde gelegentlich Opfer seiner eigenen Kreativität. Gerichte, die kein Mensch verstand, nicht einmal das Servicepersonal erklären konnte, waren nicht gut fürs Geschäft – und mussten hinterher von den Angestellten gegessen werden.
Die Tische imP’tit Bouchon waren schon eingedeckt. Alle Plätze waren reserviert. Ein Abend nach Luciens Geschmack.
Später übernahm er es persönlich, die Gäste zu empfangen und sie an ihren Tisch zu bringen. Mittlerweile machte er das nicht immer selbst, schließlich konnte was dazwischenkommen – zum Beispiel ein Auftrag, jemanden umzubringen. Aber daran wollte er heute nicht denken.
Viele Gäste kannte er, weil sie immer wieder kamen. Ein größeres Kompliment gab es nicht. Aber natürlich lernte er auch neue Gesichter kennen. Vor allem während der Saison, in der Touristen dasP’tit Bouchon stürmten – und sauer waren, wenn sie keinen Tisch bekamen. Lucien schaffte es, immer freundlich zu bleiben.
Bei einer jungen Frau, die heute zu den ersten Gästen zählte, fiel ihm das besonders leicht. Erstens hatte sie eine Reservierung, das war schon mal gut, zweitens sah sie super aus. Schwarze Haare, wenig geschminkt, tolle Figur, kein Ehering … Er bemühte sich, sie nicht allzu intensiv zu mustern. Das gehörte sich nicht. Im Reservierungsbuch überprüfte er ihren Namen. Anne Dalmasso.
»Madame Dalmasso, Sie haben einen Tisch für zwei Personen reserviert«, sagte er. »Noch haben Sie die Wahl, eher am Fenster oder näher an der Bar?«
DasP’tit Bouchon hatte zwar auch eine schmale Terrasse an der Straße, die wenigen Tische dort waren aber nur bei ausländischen Touristen begehrt, Franzosen saßen lieber drin. Einheimische sowieso.
»Ist mir egal«, antwortete sie. »Übrigens können Sie ein Gedeck entfernen, mein Begleiter kommt nicht.«
Fröhlich sah sie dabei nicht aus.
»Das tut mir leid …«
»Mir nicht, ich habe mich vor einer Stunde von ihm getrennt. Aber das ist ja kein Grund, nicht zu Abend zu essen. Dann halt allein.«
Kurz hegte er den Gedanken, diese Anne Dalmasso an seinen privaten Ecktisch einzuladen und den Empfang der weiteren Gäste Paul zu übertragen. Aber das erschien ihm doch zu plump. Außerdem wirkte sie so, als ob sie durchaus alleine zu Abend essen könnte, darauf vielleicht sogar gerade Wert legte.
»Sie haben völlig recht«, sagte er, »männliche Begleitung wird oft überschätzt. Ich hoffe, der Abend wird Ihnen dennoch gefallen.«
Anne Dalmasso sah ihn stirnrunzelnd an.
»Das sagen Sie ausgerechnet als Mann?«
»Nein, nicht als Mann, aber als jemand, der in der Gastronomie schon viel erlebt hat. Darf ich vorausgehen?«
Er zeigte ihr den Zweiertisch, der seiner Meinung nach der schönste war.
Inès, die zuständige Bedienung, kam vorbei.
»Ein Gedeck kann abserviert werden«, sagte er zu ihr.
»Abserviert klingt gut«, sagte Anne Dalmasso mit leisem Lächeln. »Genau das habe ich gerade mit diesem Idioten gemacht.«
»Es steht mir nicht zu, Sie zu diesem Schritt zu beglückwünschen, aber darf ich Sie zu einem Glas Champagner einladen?« Er wartete ihre Antwort nicht ab. »Bitte ein Glas Champagner aufs Haus«, sagte er zu Inès.
Anne Dalmasso nickte.
»Merci, das ist keine schlechte Idee. Champagner passt zu allen Lebenslagen.«
Sie wurde ihm immer sympathischer. Dennoch hielt er es für klug, sie jetzt alleine zu lassen.
Er deutete zum Eingang.
»Bitte entschuldigen Sie mich, die nächsten Gäste warten schon.«
»Sind Sie hier der Platzanweiser?«
»Ja, so kann man das sagen. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.Bon appetit.«
Später beobachtete er, wie sich Anne – in seinen Gedanken nannte er sie wie alle Frauen, die ihm gefielen, beim Vornamen – geradezu enthemmt aufs Essen stürzte. Sie begann mit Austernfines de claire. Die Platte mit zwölf Austern wurde normalerweise für zwei Personen serviert. Sie schlürfte diehuîtres mit Hingabe aus. Dazu ließ sie sich mehrfach aus einer Flasche Muscadet Sèvre et Maine nachschenken, keine schlechte Wahl. Als Nächstes hatte sie sich für einendemi homard entschieden. Oder handelte es sich sogar um einen ganzen Hummer?
Lucien gewann den Eindruck, dass Anne die Trennung von dem »Idioten« doch nicht auf die leichte Schulter nahm. Gab es so etwas wie Frustessen?
Er hieß gerade St