: Bettina Storks
: Die Stimmen über dem Meer Roman
: Piper Verlag
: 9783492987950
: 1
: CHF 5.70
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 384
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Eine Hommage an die Bretagne und die Bretonen Nirgendwo kann man so schön schweigen wie in einer bretonischen Hafenkneipe. Doch die Wahrheit darf nicht schweigen. »Das Land am Ende der Welt« - so bezeichnen die Bretonen ihre Heimat. Hier haben es Fremde nicht leicht, auch wenn sie wie Morgane eine bretonische Mutter und neuerdings ein überschuldetes Häuschen an der Küste haben - schrullige alte Mitbewohnerin inklusive. Doch Morgane spürt ganz deutlich: Mit ihrem halben bretonischen Herz gehört sie hierher ins Finistère. Diese raue, wunderschöne Landschaft löst etwas in ihr aus und die bretonische Sagenwelt scheint auch ihre Geschichte zu erzählen. Kein Wunder: Hier ganz in der Nähe ist ihre Mutter aufgewachsen und bei einem mysteriösen Badeunfall ums Leben gekommen. Morgane bleibt und beschließt zu kämpfen: um ihr Haus, ihre Unabhängigkeit und um die Wahrheit über den Tod ihrer Mutter zu erfahren. Sie findet Freunde und verliert eine Liebe. Sie findet Antworten und droht den Glauben an ihren Traum zu verlieren. Aber Morgane hat auch die bretonische Sturheit geerbt ... »Literarisches Äquivalent zum leichten Rosé an einem warmen Sommerabend.« Petra Harms, Donna Buchklub   

Bettina Storks, geboren 1960 in Waiblingen, lebt in Bodman-Ludwigshafen am Bodensee. Sie studierte Germanistik, Deutsche Philologie und Kulturwissenschaften und promovierte sich 1994 an der Universität Freiburg über die Prosa Ingeborg Bachmanns. Danach war sie mehrere Jahre als Redakteurin beschäftigt. 2007 begann sie mit dem Schreiben belletristischer Texte und erhielt im Jahre 2008 ein Stipendium vom Förderkreis Deutscher Schriftsteller Baden-Württemberg.

Kapitel 1


Morgane warf einen Blick zum Himmel über Le Conquet, steckte die Hände in die Jackentasche und ging hinunter zum Steg. Sie wollte dorthin, wo man das Meer riechen und bei passender Windrichtung sogar ein paar Tropfen abbekommen konnte, obwohl die Wellen bereits in einiger Entfernung an den Felsen zerschellten. Hier an der Bootsanlage des kleinen Fischerortes schwappte das Wasser nur hin und wieder gegen die Steinmauer.

Die Hauptsaison war lange vorbei. Im November verirrte sich kein Tourist mehr ins Finistère, schon gar nicht bei solchem Wetter. Der Wind spielte mit den eingezogenen Segeln und ließ die Boote hin- und herschaukeln. Wenn sie dabei gegen die Brüstung stießen, krächzten sie. Wie hypnotisiert betrachtete Morgane den blinkenden Leuchtturm von St.-Mathieu auf der anderen Seite der Bucht. Es kam ihr vor, als taumelte er um die eigene Achse. Seit ihrer Ankunft vor einer halben Stunde hatte sie zusehen können, wie das Blau des Himmels von den Wolken gefressen worden war. Einige von ihnen hingen mit geblähten Bäuchen so tief über dem Meer, als wollten sie jeden Moment hineinstürzen. Der klaren Luft war ein grauer Schleier gefolgt, der nun den Fischerhafen überzog.

»Es wäre besser, hier zu verschwinden!«, rief ihr ein Mann in langem Regenmantel zu. Er trug einen gelben Schlapphut und Gummistiefel, die ihm bis weit über die Knie reichten. Morgane zuckte zusammen. So sehr war sie in Gedanken versunken gewesen, dass sie ihn gar nicht bemerkt hatte. Mit Schwung warf der Fischer eine Plane über sein Boot und befestigte es mit einem Seil am Poller.

»Beeilen Sie sich besser, wenn Sie noch trocken zu Hause ankommen wollen, Madame! Ich habe kein gutes Gefühl bei diesem Himmel.«

Vergeblich versuchte Morgane, sich die wehenden Haare aus dem Gesicht zu streichen. Gegen den Wind hier kam man nicht an. »In Ordnung. Vielen Dank für die Warnung«, gab sie zurück, obwohl sie diese Küste mit all ihren Tücken, ihrer Unberechenbarkeit und ihren plötzlichen Wetterumschwüngen gut genug zu kennen meinte.

Wie lange war sie nicht mehr hier gewesen? Zehn Jahre? Fünfzehn Jahre? Genug Zeit, um manches zu vergessen, aber diese Natur hatte sie sich eingeprägt. Die wechselnden Farben des Meeres von Türkisgrün bis Königsblau, der unaufhörliche Wind, der Geschmack von Salz und der Geruch von Algen. Jetzt wälzten sich die Wassermassen, von ihrer Fracht aus Steinen, Sand und Muschelresten anthrazitfarben, fast schwarz gefärbt, ans Ufer. Morgane schien es, als schwappten mit den Wellen auch Erlebnisse ihrer Kindheit zurück in ihr Gedächtnis und dockten dort an.

All die Jahre, die sie nicht hier gewesen war, erschienen ihr plötzlich wie ein Treuebruch, den sie begangen hatte, immer und immer wieder, während jener Fischerort auf das kleine Mädchen von damals gewartet haben musste, geduldig wie ein anhänglicher, alter Freund. Als erkenne er Morganes mädchenhafte Seele wieder, obwohl sie inzwischen eine erwachsene Frau von bald vierzig Jahren war.

Finistère – das Departement im äußersten Westen Frankreichs, für Morgane war es nie das Ende gewesen, auch wenn Touristen das Wortspiel vomEnde der Welt nur allzu gern bemühten. Ihre Großmutter Mémé hatte Morgane die keltische Übersetzung von Finistère gelehrt,Penn ar Bed – Land am Anfang, Land an der Spitze der Welt.

»Nach der Bucht von Le Conquet kommt nur noch Amerika«, hatte Mémé immer stolz gesagt und behauptet, dass für die Kelten mit dem Tod alles erst anfing.

Der Fischer war verschwunden. Der Leuchtturm glomm nur noch matt durch di