: Christof Gasser
: Wenn die Schatten sterben Kriminalroman
: Emons Verlag
: 9783960418115
: 1
: CHF 10.60
:
: Krimis, Thriller, Spionage
: German
: 352
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Zwei Frauen, zwei Epochen - eine Hoffnung. Swiss Noir von Bestsellerautor Christof Gasser. Auf einem herrschaftlichen Schweizer Familiensitz fördern Renovierungsarbeiten den Leichnam einer jungen Frau zutage, die in den 1940er Jahren erschossen wurde. Offiziell ist der Fall verjährt. Doch der aus Deutschland stammenden Becky Kolberg, der das Schloss inzwischen gehört, lässt das rätselhafte Schicksal der Toten keine Ruhe. Die junge Frau arbeitete in einer Waffenfabrik im Ort, die sich im Besitz der Nationalsozialisten befand. Becky stößt auf Tagebücher und Fotos des Opfers aus jener Zeit, als die Schweiz vom Faschismus umzingelt war. Fasziniert taucht sie in das fremde Leben ein - bis die Schatten der Vergangenheit auch nach ihr greifen ...

Christof Gasser, geboren 1960 in Zuchwil bei Solothurn, ist seit 2016 Autor von Kriminalromanen. Zudem schreibt er als Gastkolumnist für die Solothurner Zeitung und verfasst Kurzgeschichten. In seinen Romanen, die regelmäßig Spitzenplätze auf der Schweizer Bestsellerliste belegen, spielt seine Heimatstadt stets eine wichtige Rolle. Gasser lebt mit seiner Frau unweit von Solothurn am Jurasüdfuß. http://www.facebook.com/solot urnkrimi www.christofgasser.ch

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»Sind das die Alpen, Mama?«

Becky schreckte hoch. Sie musste kurz nach der Abfahrt des Zuges in Olten eingenickt sein. Sie standen erneut, eine andere Station. Sie konnte kein Ortsschild erkennen. Sie sah einen bewaldeten Bergrücken, unterbrochen durch einen tiefen Einschnitt. Auf halber Höhe, an der rechten Flanke, lag eine gut erhaltene Burg mit einem riesigen aufgemalten rot-weißen Wappen am Turm. Sie kannte es von den Schilderungen ihrer Großmutter, es war das Kantonswappen von Solothurn. Sie würden bald dort sein, in ihrem zukünftigen Zuhause und Ausgangspunkt ihres neuen Lebens.

Der Zug fuhr erneut an. Die Anzeige über der Ausgangstür bestätigte es. »Nächster Halt: Solothurn«.

»Mama?«

Adrians wache hellblaue Augen sahen sie fragend an. Becky schluckte leer. Wie ähnlich er seinem Vater war. Der gleiche durchdringende Blick. Was für ein Mann würde in einigen Jahren aus ihm werden? Wie viel von sich hatte Jan seinem Sohn mitgegeben?

»Mama?« Ungeduldig, vorwurfsvoll.

»Entschuldige, mein Schatz, was sagtest du?«

»Sind das die Alpen?« Adrian zeigte zum Bergrücken, von dem sich der Zug in einer lang gestreckten Linkskurve abwandte, bevor er eine bewaldete Talenge durchquerte.

Becky lachte. »Aber nein, die Alpen sind viel höher. Erinnerst du dich nicht mehr? Wir haben nachgeschaut.«

Letzte Woche in Neustadt in Holstein hatten sie einen ganzen Abend auf der Terrasse des Hauses gesessen, das sie gegen ihre neue Heimat eingetauscht hatten, und über einem großen Atlas und Bildbänden gebrütet. Für Becky war die Schweiz ebenso neu wie für ihren Sohn. Vor allem dieser Ort, Solothurn. Sie hatte nie einen Fuß in diese Stadt gesetzt. Ihre Wurzeln lagen dort. Das war das Einzige, was sie davon wusste. Ihre Großmutter, Barbara Felicitas von Colberg, geborene von Aaregg, war Nachfahrin einer der wenigen Familien gewesen, die bis zur französischen Besetzung 1798 die Stadt und die dazugehörenden Gebiete regiert hatten.

Becky stand auf und stellte sich hinter Adrian ans Fenster. Sie beugte sich zu ihm hinunter und umfasste ihn mit beiden Armen.

Sie zeigte mit dem Finger an seinem Gesicht vorbei auf die sich entfernende Bergkette. Sie war kurz aus ihrem Blickfeld verschwunden und wieder aufgetaucht, nachdem die Bahn einen Fluss überquert hatte, von dem sie glaubte, dass es die Aare sein musste, deren Name mit dem ihrer Familie verbunden war.

»Das sind nicht die Alpen, mein Schatz. Dort siehst du bloß Felsen, Eis, Schnee und spitze Gipfel. Das da drüben nennt sich der Jura, an dessen Fuß dein neues Zuhause liegt. Ich hab’s dir im Atlas gezeigt.«

Adrian machte sich von seiner Mutter los. »Wann sind wir endlich dort?«

»In ein paar Minuten, denke ich.« Becky zog die Reisetasche und Adrians Rucksack aus der Nische zwischen den Sitzlehnen hervor. Es befanden sich nur wenige Leute im Zug. Sie hatten ein ganzes Viererabteil für sich. Becky schaute auf ihre Uhr, kurz vor halb fünf. Sie hatten eine lange Reise hinter sich. Um sechs Uhr morgens waren sie in die Regionalbahn nach Lübeck gestiegen. Von dort ging es nach Hamburg und weiter über Hannover und Frankfurt bis Basel. Der Flieger wäre schneller gewesen. Becky hasste Luftreisen ebenso wie Schiffsreisen.

Die Lautsprecheransage kündigte Solothurn an. »Hast du alles, Adi?« Becky schubste ihren Sohn sanft auf seinen Sitz am Fenster. »Bleib da, bis der Zug steht.«