: Ulrike Renk
: Ulla und die Wege der Liebe Eine Familie in Berlin
: Aufbau Verlag
: 9783841229434
: Die große Berlin-Familiensaga
: 1
: CHF 8.00
:
: Romanhafte Biographien
: German
: 528
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

'Ulla hat den Mut, ihrer Leidenschaft zu folgen und für ihre Überzeugungen einzustehen.' Ulrike Renk.

1919: Der Krieg ist zu Ende, und Ursulas große Liebe Heinrich Dehmel kehrt nach Hause zurück. Sie planen eine gemeinsame Zukunft, doch Ursula, von ihren Freunden Ulla genannt, hat Zweifel: Wird sie als Ehefrau ihre künstlerische Eigenständigkeit wahren können? Lässt sich ihr Beruf als Gestalterin mit einer Familie vereinbaren? Schließlich überwiegen ihre Gefühle, und die beiden geben sich das Ja-Wort. Allmählich lassen sie die Schatten der Vergangenheit hinter sich, und Ulla taucht mit Vera und ihren Künstlerfreunden in die schillernde Welt der Zwanziger Jahre ein. Die Geburt ihrer Tochter Fine macht ihr Glück perfekt. Doch plötzlich ist Ulla gezwungen, ihr Leben völlig neu zu überdenken ... 

Nach einer wahren Geschichte: das Leben einer talentierten jungen Frau, die für ihre Unabhängigkeit kämpft. 



Ulrike Renk, Jahrgang 1967, studierte Literatur und Medienwissenschaften und lebt mit ihrer Familie in Krefeld. Familiengeschichten haben sie schon immer fasziniert, und so verwebt sie in ihren Bestsellern Realität mit Fiktion. Im Aufbau Taschenbuch liegen ihre Australien-Saga, ihre Ostpreußen-Saga, ihre Seidenstadt-Saga sowie zahlreiche historische Romane vor. 'Ulla und die Wege der Liebe' ist nach 'Eine Familie in Berlin - Paulas Liebe' und 'Ursula und die Farben der Hoffnung' der dritte Band ihrer großen neuen Saga um die Dichterfamilie Dehmel. Mehr zur Autorin unter www.ulrikerenk.de

Kapitel 1


Berlin, Januar 1919

Ursula blickte zu dem Dachfenster über ihr, der Regen ging in Graupel über, das leichte Prasseln wurde zu einem drängenden Klopfen, so, als ob der Winter und die eisigen Tropfen unbedingt Eintritt gewährt haben wollten. Sie schloss für einen Augenblick die Augen.

»Ullala? Ursula? Bist du da?« Wieder klopfte es.

Schnell sprang sie auf, lief zur Tür. Heinrich, endlich Heinrich. Er war erst vor Kurzem aus dem Lazarett gekommen, und bisher hatten sie wenig Zeit miteinander gehabt.

»Du!«, sagte sie, als sie die Tür öffnete und zog ihn an sich. »Du!«

»Ulla. Meine Ursula.« Er schlang die Arme um sie, zog sie an sich, hielt sie fest. Sehr fest, fast schon zu fest. Ursula erstarrte.

»Heinrich? Komm mit mir.« Sie löste sich sacht aus seinem Griff und zog ihn mit sich zu ihrem Bett, das gleichzeitig als Sofa diente – je nachdem, wie sie die Kissen und Decken drapierte. »Ist etwas passiert?«

Heinrich ließ sich schwer auf das Bett fallen, das unter dem plötzlichen Gewicht in sich zusammensackte und leise quietschte, doch er schien es gar nicht wahrzunehmen. Sein Blick war verhangen wie ein nebeliger Morgen. Auch Ursula schien er nicht wirklich zu sehen. Sie war vor ihm stehen geblieben, betrachtete ihn eindringlich. Doch er ließ sich nur in die Kissen zurückfallen, sagte nichts.

»Möchtest du eine Tasse Tee?« Heinrich antwortete nicht. Er kaute auf seiner Unterlippe, sah zum Dachfenster, wo nun kleine Hagelkörner tanzten, und antwortete nicht.

»Ich möchte einen Tee.« Ursula drehte sich um und ging zu dem kleinen Kanonenofen, der in der Ecke stand, und schob zwei Holzklötze in die Brennkammer, sie rüttelte an der Belüftung, drehte die Zufuhr auf, auch wenn sie wusste, dass das Holz nun schneller verbrennen würde. Aber es würde auch zügig wärmer werden. Auf der Ofenplatte stand immer eine gusseiserne Kanne mit Wasser. Unruhig drehte sie sich zu ihm um, immer noch sah er zu dem Dachfenster. Ursula setzte sich neben ihn, ließ sich ebenfalls zurücksinken und nahm zögernd seine Hand. Der Krieg hatte ihn so sehr verändert, und oft wusste sie nicht, wie sie ihm begegnen sollte. »Heinrich?«

»Hmm«, machte er, doch er wirkte abwesend.

Ursula folgte seinem Blick zum Dachfenster, sah den hüpfenden Eiskristallen zu. Sie bildeten Muster und Formen, die sich sofort wieder auflösten.

»Ich sehne mich nach dem Frühling«, sagte sie leise und drückte seine Hand. »Nach dem klaren und blassen Licht der Sonne. Dann die ersten hellen Blätter, noch schüchtern zusammengerollt. Die Äste und Zweige der Bäume und Büsche sind voller Knospen – alles wartet auf den ersten, langen, sanften Regen –, und dann explodiert die Natur. Die Knospen springen auf, die Blätter entrollen sich und es gibt eine Million verschiedener Grün- und Gelbtöne. Es ist eine wunderbare Zeit.«

»Ja. Und der Boden duftet. Er riecht nach frischer Erde, nach einem Neuanfang, nach einem neuen Leben jenseits des tödlichen Winters.« Endlich drehte sich Heinrich zu ihr um, sah sie an, nahm sie wahr. Er schaute ihr eine Weile in die Augen, als suche er dort etwas, dann endlich beugte er sich zu ihr, küsste sie. Ein warmer, ein weicher und liebevoller Kuss. »Du mein Du«, flüsterte er. »Es tut mir leid. Ich bin immer noch … so gefangen … in all den schrecklichen Erinnerungen.«

»Es ist gut«, sagte Ursula sanft. »Alles ist gut.«

»Nein!« Heinrich schüttelte heftig den Kopf und wich wieder zurück. »Nein, das ist es nicht. Und das wird es auch nie wieder sein.«

»Das Wasser kocht.« Ursula stand auf, ihre Knie zitterten, sie wusste nicht, was sie erwidern sollte. Seit er vor ein paar Wochen zurückgekommen war, gab es immer wieder diese Momente, in denen er ihr sehr fremd vorkam. Aber hatten sie sich nicht alle seit und durch den Krieg verändert? So manche ihrer Bekannten wünschten sich sehnlichst ihr altes Leben zurück, doch Ursula sah das anders. Die Kaiserzeit war vorbei und auch der Krieg. Deutschland hatte ihn – zu Recht – verloren. Jetzt hatten sie die Chance, Überkommenes hinter sich zu lassen und neu zu beginnen. Die Zeichen standen auf Neuanfang, trotz all der Trauer und Schwierigkeiten war da doch der Funke der Hoffnung. Es gab einen Neuanfang, man musste es nur richtig machen. Ein Frühling in Staatsgröße – wenn nur die richtigen Knospen sich öffnen, und die Flechten und das erstickende Efeu der alten Zeit nicht Überhand gewinnen würden.

Mit Heinrich hatte sie noch nicht richtig darüber sprechen können. Er war für einige Zeit in Hamburg bei seinem Vater, Vera und Tetjus gewesen, die gerade ebenfalls im Dehmelhaus in Blankenese wohnten, während Ursula immer noch in ihrer Studentenbude in Berlin lebte.

Ursula nahm einen Lappen, goss das heiße Wasser aus der Kanne in zwei Tassen, in die sie allerlei getrocknete Blätter getan hatte – ein wenig Minze, etwas Lavendel und Melisse. Melisse war im letzten Jahr im Garten nahezu explodiert und wuchs dort fast wuchernder als die Brennnesseln, deren pikende Blätter sie ebenfalls gesammelt und getrocknet hatte. »Unkraut gibt es nicht«, hatte einer der Gartennachbarn ihr erklärt. »Jede Pflanze hat auch ihr Gutes.«

Nachdem sie den Kessel wieder mit Wasser gefüllt hatte, stellte sie ihn zurück auf den Ofen und schloss die Luftzufuhr. Nun würde das Holz nicht mehr brennen, sondern nur noch glimmen. Der Raum war inzwischen warm genug – wärmer würde es ohnehin nicht werden, denn die Fensterrahmen hatten sich verzogen und der Wind heulte durch jede Ritze. Trotzdem mochte sie ihre Studentenbude, sie fühlte sich hier wohl.

Langsam trug sie die vollen Becher mit den heißen Getränken zurück zum Bett. Heinrich griff danach, nippte.

»Heiß!«, sagte er, und zum ersten Mal verzog sich sein Gesicht zu einem Lächeln. Fast schon erleichtert setzte sich Ursula neben ihn. »Ja, das Beste bei diesem Wetter.« Nachdenklich sah sie ihn an. »Wie geht es dir?«

»Die Kälte«, sagte er und rieb über sein rechtes Bein. »Ich merke es in den Wunden. Es schmerzt.«

»Das meinte ich nicht, Heinrich, und das weißt du.«

Er senkte den Kopf und nickte. »Ja, das weiß ich, Ulla, ich weiß. Aber …«

»Ich bin es. Ich. Ursula. Deine Ulla.« Sie nahm seinen Becher, stellte ihn auf den Nachttisch und führte seine Hand, legte sie auf ihre Brust, dort, wo ihr Herz schlug. »Ich bin es. Ich und du.« Sie zögerte. »Ich und du … ist das noch so?«

Er schloss die Augen, strich leicht mit seinem Daumen über ihre Bluse, dann endlich sah er sie an. »Es ist viel passiert.« Seine Stimme klang traurig, und seine Augen füllten sich mit Tränen. »So viel.«

»Ja.« Ursula schluckte. »Ja, das weiß ich. Aber …« Ihre Stimme verklang, sie wusste nicht, was sie dem entgegensetzen sollte. Für einem Moment schien der Raum, ihre kleine Wohnung, in einem violetten Schleier zu verschwinden.

Heinrich rückte näher zu ihr, seine Augen suchten ihren Blick, unruhig und voller Zweifel. Er sah sie an, sah weg, schloss die Augen, tauchte wieder in ihren Blick ein.

»Der Gedanke an dich«, sagte er dann mit brüchiger Stimme, »hat mich am Leben erhalten. Ich habe an dich gedacht, von dir geträumt, auf dich gehofft. Ich habe mir unsere Zukunft ausgemalt – nach diesem verfluchten Krieg. Und nun ist er vorbei, aber …«

»Alles ist anders, und nichts wird mehr so sein, wie es war«, sagte Ursula leise. »Ja, das weiß ich. Doch … du und ich … wir sind immer durch wechselnde Gezeiten gegangen, es war nie leicht, nie unbeschwert.« Sie biss sich auf die Lippe, holte tief Luft. »Ich liebe dich. Ich habe dich immer geliebt, und ich werde dich immer lieben. Das ist alles, was ich sagen kann – und es ist alles, was zählt, Heinrich.«

Er schwieg, nahm aber ihre Hand in seine, verschränkte die Finger ineinander, ließ sie los, nahm sie erneut. Dann sah er sie wieder an. »Wie soll das alles werden?«

»Was ist denn alles?« Ursula entwand sich seinem Griff, stand auf, in ihr brodelte es. So hatte sie sich das Wiedersehen mit ihm nicht vorgestellt. Im Gegenteil. In ihrer Vorstellung war alles grün und gelb, alles farbenfroh und voller Hoffnung gewesen, doch dieses latent...