: Titus Müller, Christa Roth
: Geigen der Hoffnung Damit ihr Lied nie verklingt.
: Adeo
: 9783863347697
: 1
: CHF 12.50
:
: Historische Romane und Erzählungen
: German
: 208
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Zusammengepfercht stehen die Menschen in verriegelten Waggons, die am Bahnsteig auf die Abfahrt warten. Es geht ins Verderben - das ahnen längst alle. Plötzlich hält ein Mann sein Instrument durch eine Luke nach draußen und ruft einem Passanten zu: 'Nehmen Sie die Geige! Ich werde ohnehin nie mehr spielen.' Zwei Hände greifen in letzter Minute danach, ehe sich der Deportationszug in Bewegung setzt. Fast 40 Jahre später beugt sich Amnon Weinstein über eine zerkratzte und verfärbte Geige. Mühsam restauriert der Geigenbauer das ramponierte Instrument. Über 60 Geigen hat Amnon Weinstein im Lauf der Jahre aufgespürt und wieder zum Klingen gebracht. Diese 'Violins of Hope' werden heute in den größten Konzertsälen der Welt gespielt - und erinnern daran, dass wir das Leid der Opfer nie vergessen dürfen. Für Recherchen zum Buch war Journalistin Christa Roth mehrfach bei Amnon Weinstein in Tel Aviv zu Gast.

Titus Müller studierte in Berlin Literatur, Mittelalterliche Geschichte, Publizistik und Kommunikationswissenschaften. Mit 21 Jahren gründete er die Literaturzeitschrift 'Federwelt'. Seine Ratgeber und historischen Romane begeistern viele Leser. Titus Müller ist Mitglied des PEN-Club und wurde u.a. mit dem 'C. S. Lewis-Preis' und dem 'Sir Walter Scott-Preis' ausgezeichnet.

Dass die Nacht bereits hereingebrochen war, bemerkte Amnon Weinstein nicht. Über eine Geige gebeugt saß er in seiner kleinen Kellerwerkstatt, vor ihm das kalte, flackernde Licht einer Neonröhre. Von allen Seiten betrachtete er das Instrument. Geruhsam, sorgsam. Dann seufzte er tief. Die Geige befand sich in einem erbärmlichen Zustand, das sah er sofort. Die Oberseite ramponiert und abgenutzt. Das Holz gesplittert, ausgebleicht. Die gelackte Unterseite dagegen glänzte geradezu herausfordernd und wies weit weniger Gebrauchsspuren auf. Es schien, als würden beide Teile nicht zusammenpassen. Als seien sie zusammengesetzte Hinterlassenschaften aus verschiedenen Welten, die nichts weiter miteinander verband als die Passform. Das Verstörendste aber, das erst auf den zweiten Blick zum Vorschein kam, befand sich im Inneren des filigranen Klangkörpers. Denn was aussah wie schwarzer Staub, stellte sich als Asche heraus.

„Nehmen Sie meine Geige oder ich verbrenne sie!“ Mit diesen Worten suchten Ende der 1940er-Jahre zahlreiche verzweifelte Musiker die Werkstatt auf, die Amnons Vater Moshe gehörte, einem der ersten Geigenbauer Israels. Viele, die zu ihm kamen, hatten die Vernichtungsversuche der Nazis nur nach außen hin überlebt. Verachtet, verschleppt und verstümmelt an Leib und Seele quälten sie sich nach dem Krieg durch ihr neues Leben. Mit der Vergangenheit abzuschließen gelang den wenigsten. Auch diejenigen, die selbst nicht unmittelbar Opfer von Gewalt geworden waren, hatten zu oft mitansehen müssen, wie anderen Schreckliches widerfuhr. Die Erinnerungen an die Nazizeit waren ihnen allen ständige Begleiter. Manchen sogar in Form von Musik. Ich habe Jahre gebraucht, bis ich wieder das Violinkonzert von Brahms hören konnte, sagten sie etwa. Auf Instrumenten zu musizieren, die vor den Toren der Konzentrationslager gespielt werden mussten, während entkräftete, vor Angst gelähmte Menschen in die Gaskammern getrieben wurden? Allein die Vorstellung daran war unerträglich. Um sich davon frei zu machen, sollten die einst geliebten Instrumente verstummen, in der Hoffnung, das Erlebte möge entsprechend verblassen.

Auch unschuldige Geigen, Bratschen oder Celli, die nie Teil der Tötungsmaschinerie geworden waren, wurden nach 1945, als man das Ausmaß der Verbrechen erfuhr, nahezu unantastbar. Sie zu spielen kam einem Frevel gleich. Immerhin waren nicht wenige deutscher Machart. Moshe Weinstein, der 1938 mit seiner Frau Golda gerade rechtzeitig aus dem damals noch polnischen Vilnius in das britische Mandatsgebiet Palästina fliehen konnte, nahm sich der nutzlos gewordenen, weil schwer verkäuflichen Ware an. Er verstaute sie in der hintersten Ecke seiner eigentlich viel zu kleinen Werkstatt und schützte sie so vor dem Verfall. Sein Handeln kam in gewisser Weise einer Form des Widerstands gegen die Nazis gleich. Denn die Instrumente – und damit auch die viele Arbeit, die darin steckte und seine eigene hätte sein können – zu Brennholz zu verarbeiten, war für ihn im Grunde nichts anderes, als sie nachträglich ebenfalls den Nazis zum Opfer fallen zu lassen. Das aber brachte Moshe nicht übers Herz. Genauso wenig wie darüber zu reden. Für seinen 1939 in Tel Aviv zur Welt gekommenen Sohn Amnon bedeutete dieser sprachlose Umgang mit der Nazizeit ein Leben im Schatten des Holocausts.

„Die Begriffe ‚Oma‘, ‚Opa‘ oder ‚Tante‘ und ‚Onkel‘ kannte ich als Kind nicht“, eröffnet er mir eines Nachmittags in der Werkstatt. In den Achtzigern hat er sie von seinem Vater übernommen und verbringt nun Tag für Tag in ihr – wie in einem Kokon. Außer Amnons Eltern und einem Bruder seines Vaters, der in die Vereinigten