KAPITEL 1
Der Vortrag war zu Ende.
Der Projektor wurde ausgeschaltet, die Präsentation verschwand von der Leinwand.
Ich trank das Glas Wasser, das man mir aufs Rednerpult gestellt hatte, zur Hälfte aus und stieg vom Podium hinunter zum Publikum, wo sich schon viele von ihren Plätzen erhoben hatten und eifrig miteinander tratschten. »Die Entwicklung alter Stadtzentren und urbanes Gestalten« war mein Thema gewesen, und dass es auf Interesse stieß, bezeugte die beträchtliche Zuhörerschar, die sich heute hier eingefunden hatte. Ein Magistratsdirektor, Leiter des Planungsausschusses für den Privatsektor, nahm sich meiner an, und ich folgte ihm in die Aula vor dem Hörsaal. Alle strebten schon dem Ausgang zu, als sich eine junge Frau gegen den Strom durch die Menge zwängte und auf mich zusteuerte:
»Einen Moment, bitte!«
Ich blieb stehen, um sie näher in Augenschein zu nehmen. Zu Jeans trug die Frau ein T-Shirt, alles sehr gewöhnlich, und das ungeschminkte Gesicht wurde von einem Kurzhaarschnitt umrahmt.
»Ich habe Ihnen etwas zu geben.«
Ich starrte sie nur verdutzt an, während sie mir einen Zettel hinhielt, auf dem groß ein Name prangte. Darunter standen in kleinerer Schrift Zahlen, die wohl eine Telefonnummer ergaben.
»Was soll das sein?«, fragte ich, während ich den Zettel in Empfang nahm. Inzwischen befand sich die Frau bereits wieder in einer Art Rückwärtsgang.
»Das ist die Nummer von jemandem, den Sie gut kennen, von früher«, antwortete sie, wobei sie den Abstand zu mir weiter vergrößerte. »Sie sollen sich unbedingt einmal bei ihm melden«, rief sie noch.
Ehe ich eine weitere Frage stellen konnte, war die junge Frau in der Menschenmenge verschwunden.
Dass ich gut eine Woche später nach Yeongsan aufbrach, lag an einer Textnachricht von Gus Frau. Gu war ein Freund aus Kindertagen. Ich stamme aus Yeongsan, habe dort meine gesamte Volksschulzeit verbracht, und das Nachbarskind Gu drückte mit mir zusammen die Schulbank. Die meisten Leute, die im Kreiszentrum lebten, besaßen entweder ein kleines Geschäft an der neu angelegten zentralen Hauptstraße, oder sie waren in den diversen Amtsgebäuden und Schulen angestellt. Diejenigen, die noch in den althergebrachten Anwesen hausten, diesen gefälligen Bauwerken mit ihren geräumigen Innenhöfen, das waren die Grundbesitzer. Ihnen gehörten die Äcker und Reisfelder draußen vor der Stadt. Mit dem Pappenstiel, den ihm seine Anstellung als Schreiber im Kreisamt einbrachte, konnte mein Vater unsere Familie gerade so erhalten.
Yeongsan lag am sicheren Ufer des Nakdong; nach dem Krieg war es dort nicht viel anders als vorher. Nachdem mein Vater mit heiler Haut aus dem Krieg zurückgekehrt war, verschaffte man ihm im Kreisamt von Yeongsan einen Posten als Hilfskraft. Meiner Mutter zufolge hin