1. Kapitel
Nachts sind alle Katzen grau, heißt es. Diese hier war weiß, mit einem kleinen schwarzen Fleck rechts neben der Nase und einem etwas größeren auf dem Rücken. Jede Nacht, am Ende von Emilias Schicht, kam sie anPaul’s Bistro vorbei, setzte sich mit der mühelosen Eleganz, wie sie nur Katzen haben, auf die fleckigen Platten, und wartete geduldig darauf, dass Emilia erschien und ihr den erhofften Leckerbissen brachte. Manchmal war es ein Stück schlaffes Burgerbrötchen, manchmal der Rand einer Pizza. Die Katze aß sogar Pommes mit Ketchup. Als Bahnhofskatze durfte sie nicht wählerisch sein.
Offensichtlich kam dem Tier diese Einstellung zugute, denn anders als die vielen anderen Katzen, denen Emilia in Paris begegnete, sah sie wohlgenährt aus. Keine Rippe zeichnete sich an ihrem Körper ab, und ihr weißes Fell war zwar ein bisschen schmutzig, fühlte sich aber unter Emilias Fingern weich und seidig an.
«Heute habe ich etwas ganz Besonderes für dich», sagte Emilia und warf der Katze einen Zipfel Wurst zu. Dann drehte sie das Schild an der Tür des kleinen Bistros um. Ausouvert wurdefermé.
Die tagsüber so belebten Bahnsteige waren jetzt verwaist, lediglich ein Nachtzug wurde noch erwartet, und das auch erst in zwei Stunden. Nur Abdul war noch da und fuhr mit seiner Kehrmaschine seine einsamen Runden.
«Feierabend für heute?», rief er ihr zu.
«Ja, in ein paar Minuten.»
«Ich muss noch ein bisschen.» Seine weißen Zähne leuchteten in dem dunklen, schmalen Gesicht.
Emilia grinste. Diese Unterhaltung führten sie jeden Tag. Als Abdul letzte Woche krank gewesen war, hatte ihr richtig etwas gefehlt. Sie warf noch einmal einen Blick auf die Katze, die sich über den Wurstzipfel hermachte, und ging zurück ins Bistro.
Die beiden Frauen an Tisch zwei waren endlich bereit zu gehen. «Hier! Der Rest ist für Sie!» Eine von ihnen legte zwei Scheine auf den Mahagonitisch. Mit ihrer kühlen, blonden Schönheit erinnerte sie Emilia an ihre Schwester. Selbst wenn Clara in der Erde herumwühlte, schaffte sie es, so auszusehen, als käme sie gerade von der Kosmetikerin. Schweiß und Schmutz schienen an ihr abzuperlen wie Öl an einer teflonbeschichteten Pfanne. Genau wie alle Widrigkeiten des Lebens. Nicht einmal, dass sie mit neunzehn Jahren mit Lizzy schwanger geworden war (von einem Mann, über dessen Identität sie hartnäckig Stillschweigen wahrte), hatte sie erschüttert. Und auch als Klaus, der Vater von Felix, acht Jahre später mit einer Zahnarzthelferin durchbrannte (er hatte sie beim Zähnebleichen kennengelernt), hatte Clara sich nur kurz geschüttelt und dann weitergemacht, als wäre nichts gewesen.
Der bullige Blaumannträger am Spielautomaten machte keine Anstalten zu gehen. Genauso wenig wie der Typ im Anzug. Seit zwei Stunden saß er am Tresen und bestellte einen Gin nach dem anderen. Wieso er wohl um diese Zeit nicht in seinem teuren Appartement saß oder seine Getränke in einem hippen Club schlürfte? Sein Anzug war von Hugo Boss, und er hatte die für Geschäftsmänner typische Aktentasche bei sich. Er roch nach Minzpastillen und einer erdigen Moschusnote mit einem Hauch Meeresbrise. Sein weißes Hemd musste einen Tick zu lange nass in der Waschmaschine gelegen haben.
«Kann ich noch einen haben?» Seine Zunge war mit jedem Glas schwerer geworden.
«Wir schließen in ein paar Minuten. Aber wenn Sie sich beeilen …»
Er nickte.
Emilia wusste aus eigener Erfahrung, dass er es am nächsten Morgen bereuen würde. Trotzdem nahm sie ein sauberes Glas aus dem Regal und goss Gin hinein.
«Sie kommen aus Deutschland?», fragte er.
«Ja.»