: Ben Winters
: Der letzte Polizist Roman
: Heyne
: 9783641113360
: 1
: CHF 7.90
:
: Science Fiction
: German
: 352
: DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Was würdest du tun, wenn die Welt untergeht?
Ein Asteroid rast auf die Erde zu. In sechs Monaten wird er einschlagen. Und nichts kann ihn aufhalten. Im Angesicht der Apokalypse tun die meisten Menschen das, was sie schon immer tun wollten, sich aber nie getraut haben. Andere wenden sich dem Glauben zu. Wieder andere begehen Selbstmord. Aber niemand tut mehr seine Pflicht - bis auf Detective Hank Palace. Als sich ein vermeintlicher Suizid als Mord entpuppt, ist Hanks Neugierde geweckt: Wer macht sich kurz vor dem Ende der Welt noch die Mühe, jemanden umzubringen?

Ben Winters wuchs im ländlichen Maryland auf und studierte an der Washington University in St. Louis. Neben seinen Romanen schreibt er Theaterstücke und arbeitet als freier Journalist, unter anderem für dieHuffington Post,USA TodayundThe Nation. Der Autor lebt mit seiner Familie in Indianapolis.

1

Ich starre den Versicherungsmenschen an, und er starrt mich an, zwei kalte graue Augen hinter einer altmodischen Schildpattbrille, und ich habe so ein schreckliches und zugleich anregendes Gefühl wie: Heiliger Bimbam, das ist echt, und ich weiß nicht, ob ich schon so weit bin, ich weiß es wirklich nicht.

Ich kneife die Augen zusammen, beruhige mich und sehe ihn mir noch mal an, rutsche ein bisschen auf dem Hintern herum, um ihn genauer betrachten zu können. Die Augen und die Brille, das schwach ausgeprägte Kinn und die Stirnglatze, der schmale schwarze Gürtel, der unter dem Kinn zugebunden und stramm gezogen wurde.

Das ist echt. Oder doch nicht? Ich weiß es nicht.

Ich hole tief Luft, befehle mir, mich zu konzentrieren, blende alles aus außer der Leiche, blende den schmutzigen Fußboden und die blecherne Rockmusik aus den billigen Lautsprechern in der Decke aus.

Der Geruch macht mich fertig, ein durchdringender, zutiefst unangenehmer Geruch, wie in einem mit Frittierfett bespritzten Pferdestall. Es gibt eine Reihe von Jobs in dieser Welt, die noch immer effizient und sorgfältig erledigt werden, aber die nächtliche Reinigung der Toiletten durchgängig geöffneter Fast-Food-Läden gehört nicht dazu. Paradebeispiel: Der Versicherungsmensch hatte mehrere Stunden lang in sich zusammengesunken hier drin gelegen, eingeklemmt zwischen der Kloschüssel und der mattgrünen Wand der Kabine, bevor Officer Michelson zufällig reinkam, weil er mal auf den Topf musste, und ihn entdeckte.

Michelson hat es natürlich als 10-54S gemeldet, und genau so sieht es auch aus. Eins habe ich in den letzten Monaten gelernt, eins haben wir alle gelernt, nämlich dass Selbstmord durch Erhängen nur selten damit endet, dass jemand von einer Lampe oder einem Dachbalken baumelt, wie im Film. Wenn die Möchtegern-Selbstmörder es ernst meinen– und heutzutage meint jeder alles ernst–, binden sie sich an einem Türknauf, einem Kleiderhaken oder, wie es der Versicherungsmensch scheinbar getan hat, an einer waagerechten Schiene wie der Griffstange in einer Behindertentoilette fest. Und dann beugen sie sich einfach vor und lassen ihr Gewicht die Arbeit erledigen, den Knoten zuziehen und die Luftröhre verschließen.

Ich rücke weiter nach vorn, hocke mich ein bisschen anders hin, versuche irgendwie, den Raum halbwegs bequem mit dem Versicherungsmenschen zu teilen, ohne hinzufallen oderüberall meine Fingerabdrücke zu verteilen. In den dreieinhalb Monaten, die ich nun schon Detective bin, habe ich neun solche Fälle gehabt, und ich kann mich immer noch nicht daran gewöhnen, was der Erstickungstod mit dem Gesicht eines Menschen anstellt: die in einem Ausdruck des Entsetzens geradeaus starrenden Augen, durchzogen von dünnen Spinnweben aus Blut; die heraushängende, in den Mundwinkel gerutschte Zunge; die aufgedunsenen, an den Rändern ins Violette spielenden Lippen.

Ich schließe die Augen, reibe sie mit den Fingerknöcheln und schaue noch mal hin, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie der Versicherungsmensch im Leben ausgesehen hat. Ein attraktiver Mann war er nicht, das sieht man sofort. Das Gesicht ist teigig und insgesamt ein wenig unproportioniert: das Kinn zu klein, die Nase zu groß, die Augen fast knopfartig hinter den dicken Gläsern.

Es sieht so aus, als hätte sich der Versicherungsmensch mit einem langen schwarzen Gürtel umgebracht. Das eine Ende hat er an der Griffstange befestigt, das andere zu dem Henkersknoten geknüpft, der sich nun brutal von unten in seinen Adamsapfel gräbt.

»Hallo, mein Junge. Wer ist Ihr Freund?«

»Peter Anthony Zell«, antworte ich leise und schaueüber die Schulter hinweg zu Dotseth mit seinem flotten karierten Schal hoch, der die Tür der Kabine geöffnet hat, grinsend auf mich herabschaut und sich an einem dampfenden Becher McDonald’s-Kaffee festhält.

»Männlich, weiß. Achtunddreißig Jahre. Hat bei einer Versicherung gearbeitet.«

»Lassen Sie mich raten«, sagt Dotseth.»Er ist von einem Hai gefressen worden. Oh, Moment, nein: Selbstmord. Ist es Selbstmord?«

»Sieht so aus.«

»Ich bin schockiert! Schockiert!« Denny Dotseth istAssistant Attorney General– stellvertretender Generalstaatsanwalt–, ein Schlachtross mit silbergrauem Haar und breitem, fröhlichem Gesicht.»Ach herrje, tut mir leid, Hank. Wollten Sie auch’n Kaffee?«

»Nein, danke, Sir.«

Ich berichte Dotseth, was ich aus der schwarzen Kunstleder-Brieftasche in der Gesäßtasche des Opfers erfahren habe. Zell arbeitete bei einem Unternehmen namens Merrimack Life and Fire mit Büros im Water West Building, gleich beim Eagle Square. Eine kleine Sammlung abgerissener Eintrittskarten fürs Kino, alle aus den letzten dr