Prolog
Starnberg1991
Sobald die ersten Flocken fielen, blieben alle, ob jung oder alt, stehen und staunten, als würden sie Zeugen eines Wunders. Die Hektik des Alltags verebbte, und die lauten Geräusche lösten sich in ein Rauschen auf. Wie Sprechblasen in den Comics, die er als Kind verschlungen hatte, hing den Leuten der Atem in der Luft. Nach und nach bedeckte der Schnee die grelle Welt, hüllte sie in ein weißes Tuch ein, als wäre die Bitte um Entspannung erhört worden. Er liebte den Winter, wenn die Leute sich in ihre Behausungen zurückzogen und nur noch das Notwendigste im Freien verrichteten. Das war seine Zeit. Seit er denken konnte, war er dann immer nach Einbruch der Dämmerung draußen herumgelaufen und hatte sich die Familiendramen im Schutz der Dunkelheit betrachtet. Er unsichtbar im Zuschauerraum, und sie hinter ihren beleuchteten Fenstern wie auf einer Bühne. Später hatte er seine Leidenschaft zum Beruf gemacht, oder besser, war er seiner Berufung gefolgt. Die offizielle Bezeichnung, die man für solche wie ihn verwendete, war viel zu allgemein gehalten und unterstellte niedere Beweggründe für seine Art von Tätigkeit. Als ob es ihm einzig um Profit ging. Das, was er machte, folgte einem höheren Anspruch, war so etwas wie Kunst, zu der Talent gehörte. Eine logistische Meisterleistung, die viel Kreativität verlangte. Bisher hatte niemand seine Raffinesse durchschaut, er trickste sie alle aus. Das Wichtigste war die Vorbereitung, die musste sorgfältig bis ins kleinste Detail erfolgen. Danach konnte er alle weiteren Schritte routiniert abspulen. Freilich kam es vor, dass unvorhergesehene Ereignisse seinen Plan durchkreuzten, dann galt es Ruhe zu bewahren.
Eigentlich hatte er seinen Wagen bei der Kirche, nahe der Hauptstraße abstellen wollen, um möglichst schnell wieder fortzukommen. Doch als er dort keine freie Lücke fand, entschied er, am Bahnhofsrondell zu parken. Er stieg aus und ging die Wittelsbacherstraße entlang, wo ihm Scharen von Menschen entgegenkamen. Darunter viele Kinder, brav an den Händen der Erwachsenen, und alle im Sonntagsstaat, die meisten dunkel gekleidet wie er. Er blickte in glänzende Augen und auf rote Wangen unter Wollmützen, nickte den Leuten zu, als gehörte er zu ihnen. Vor ein paar Jahren hätte er noch bei jeder Dame seinen Hut gelupft, kurz zuckte es in seinem Arm, der alte Impuls war noch vorhanden, auch wenn diese Geste längst aus der Mode gekommen war. Die Zeit der Kavaliere war vorbei. Türen aufhalten, den Stuhl für die Dame herausziehen, bevor man sich selbst setzte und ihr später in den Mantel hineinhelfen war »out«, wie die Jungen sagten. Dabei sehnte sich jede Frau danach, umgarnt zu werden. Das Läuten der Kirchenglocken setzte ein. Er war so auf sein Ziel konzentriert gewesen, dass er für einen Moment vergessen hatte, welcher Tag heute war. Die Feiertage waren doch von höchster Bedeutung für seinen Plan. Er lächelte in sich hinein. Die Kindermette. Als er klein gewesen war, hatte er Kinderwette verstanden und gedacht, dort gäbe es etwas zu gewinnen. Eine ArtWetten, dass ..?, um ihm die Zeit bis zur Bescherung zu verkürzen. Er drängelte sich an den letzten Familien vorbei und lief den schneebedeckten Gehsteig weiter, bis zur Ludwigstraße vor. Im Laden an der Ecke brannte Licht. Um diese Zeit, noch dazu an Heiligabend, hatten die meisten Geschäfte längst geschlossen. Anscheinend erhoffte man sich, bis zur letzten Minute Umsatz zu machen. Er lugte durch das Schaufenster, das mit Kunstschnee besprüht und mit Lichtergirlanden verziert war. Tatsächlich. Die Verkäuferin, eine ältere Frau, die eine Schleife im Haar trug, als wäre auch sie ein Geschenk, bediente mit einer Seelenruhe noch Kunden.
Solche kleinen Läden hatte er früher geliebt, hatte es nicht erwarten können, groß genug zu sein, um allein einkaufen zu dürfen. Mit dem Wanderrucksack auf dem Rücken, dem Einkaufszettel in der Hosentasche und der Milchkanne in der Hand hatte ihn seine Mutter losgeschickt, nicht ohne ihn zu ermahnen. Falls er der direkten Nachbarin begegnete, durfte er sie nicht mehr grüßen. Seine Mutter war wie