: Hermann Burger
: Simon Zumsteg
: Schilten Schulbericht zuhanden der Inspektorenkonferenz. Roman
: Nagel& Kimche im Carl Hanser Verlag
: 9783312006151
: 1
: CHF 15.40
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: Hauptwerk vor 1945
: German
: 416
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Unter dem pädagogischen Künstlernamen Armin Schildknecht arbeitet der dreißigjährige Peter Stirner im abgelegenen Dorf Schilten im Kanton Aargau als Lehrer. Allerdings unterrichtet er längst nicht mehr das, was der Lehrplan vorsieht. In der Schule neben dem Friedhof sinniert er in dem Bericht an seinen Vorgesetzten über Pädagogik, Tod, Erziehung und die Lebensphilosophie des Totengräbers. In seinem Debütroman von 1976, einem der wichtigsten Romane der Schweiz der Nachkriegszeit, zeichnet Hermann Burger minutiös eine Obsession und dabei so aberwitzig wie gnadenlos die Absurdität eines maroden Bildungssystems.

Hermann Burger, geboren 1942 in Aarau/Schweiz, studierte Germanistik und promovierte mit einer Arbeit über Paul Celan. Bereits als Student debütierte er 1967 mit der Gedichtsammlung Rauchsignale. Sein vielbeachteter erster Roman Schilten erschien 1976. Burger war außerdem Privatdozent für Neuere Deutsche Literatur und Feuilletonredaktor. Sein literarisches Werk wurde vielfach ausgezeichnet. 1989 starb Hermann Burger auf Schloss Brunegg im Aargau an einer Überdosis Medikamente.

ERSTES QUARTHEFT


 

Die Schwierigkeit einer exakten Schilderung der Schiltener Lehr- und Lernverhältnisse hängt damit zusammen, dass die Beschreibung des Schulhauses, in dessen Dachstock meine Wohnung eingebaut ist, nahtlos in die Darstellung meines Unterrichtsübergehen sollte, Herr Inspektor. So wie ich hier hause, doziere ich auch. Die klare Trennung von Schulsphäre und Privatsphäre existiert nur in den dumpfen Köpfen der Eltern meiner Schüler. Ich will und kann nicht zwei Leben nebeneinander leben. Absonderlichkeiten des Schulhauses sind Absonderlichkeiten des Unterrichts. Der Schulmeister von Schilten ist ein Scholarch.

 

Ich bedaure, dass Sie meiner wiederholten Einladung, unsere hinterstichige Landturnhalle zu inspizieren– und zwar im Morgengrauen oder an einem trüben Sonntagnachmittag, wie ich ausdrücklich verlangte–, nie Folge geleistet haben, Herr Inspektor. Ansonsten hätten wir nun wenigstens eine gemeinsame Turnhallenbasis.Überhaupt sind Ihreüberfallartigen Blitzbesuche, Ihre Unterrichts-Stichproben in den letzten Jahren gänzlich ausgeblieben. Dies war ja Ihr berüchtigtes Vorgehen: an einem x-beliebigen Vormittag des Jahres in einem x-beliebigen Schulhaus Ihrer fetten Inspektions-Pfarre unangemeldet in eine x-beliebige Lektion zu platzen und einen Unterrichts-Pfropfen auszustechen. Gott weiß, womit ich Ihre Vernachlässigung– oder aber Ihr grenzenloses Vertrauen– verdient habe! Item, Sie haben Schilten ausgeklammert, links liegengelassen, und so bin ich auf den schriftlichen Dialog mit Ihnen angewiesen. Die zunehmende Verschriftlichung meiner Existenz ist, so paradox dies klingen mag, durch Ihr Inspektionsvakuum ausgelöst worden. So kommt es, dass Armin Schildknecht, vormaleinst Ihr Schützling in deräußersten pädagogischen Provinz dieses Kantons, jenen Schulbericht, der eigentlich von Ihnen erwartet würde, selber in Angriff nehmen muss, sozusagen als Explorand der hohen Inspektorenkonferenz, und dies umso dringlicher, als ja ein seit Jahren kunstvoll in der Schwebe gehaltenes Disziplinarverfahren gegen mich hängig ist.

 

Es wäre mir bei der vorgeschlagenen Besichtigung nicht um eine Kritik an den Geräten gegangen, welche diese Bezeichnung freilich kaum mehr verdienen, sondern um einen Stimmungsaugenschein, um eine kurze Stegreifbeurteilung des Geisteszustandes unserer Kleinturnhalle, die, ins Schulhaus eingebaut, immerhin das Gesicht der Nordfassade prägt, weshalb Sie, wenn Sie den steilen Schulstalden von Außerschilten nach Aberschilten hinauffahren, auf den ersten Blick nicht sagen können, ob Sie einen Profan- oder einen Sakralbau vor sich haben. Die fünf gleich großen, dreigeteilten Rundbogenfenster im Erdgeschoss scheinen eher zu einer Kapelle oder zu einem Missionshaus zu gehören als zu einer Lehranstalt. Das Glockentürmchen, das von der Mitte des Dachfirstes leicht gegen den Friedhof vorgerutscht ist, verstärkt diesen Eindruck, und die dunkle Palisadenwand des Schiltwaldes, der das sichelförmige Schilttal gegen Süden abriegelt, trägt das Ihrige zur Verschleierung der Turnhallenfassade bei. Eine Sektenkapelle mit halbamtlichem Einschlag, würde jeder Unvoreingenommene vermuten, ein Klausnerschlösschen. Die Nordseite ist die zwitterhafteste von allen vier Ansichten. Den Rundbogen widersprechen im Obergeschoss fünf hochrechteckige, für ein Unterrichtsgebäude etwas zu aristokratisch geratene Herrenfenster. Erst wenn man näher kommt, verraten die vergraste Weitsprung-Anlage und das durchgerostete Reckgerüst auf der kleinen, von einer zwerghaften Buchsbaumhecke eingefriedeten Turnwiese den wahren Charakter des Raumes, der sich hinter der Kapellenfront verbirgt. Man könnte allerdings von diesem Schindanger früherer, leichtathletischer Aktivitäten mit den beiden gelochten Marterstangen ebenso gut auf eine Leichenhalle schließen. Nicht weit gefehlt, Herr Inspektor, nicht weit gefehlt!

 

Wenn Sie durch das Hauptportal in den stichtonnengewölbten Schulhauskorridor treten, diesen Angsttunnel von unzähligen Schüler-Generationen, in dem es steinsüßlich und urinsäuerlich riecht, finden Sie linker Hand die Tür zum Unterstufenzimmer, rechts auf gleicher Höhe eine genau gleich große, gleich gestrichene und gleich beschriftete Tür, die einen gleich großen Unterrichtsraum vortäuscht.Öffnen Sie diese Tür unvorbereitet, als Schulhaus-Neuling, in Erwartung von Bankreihen und einer Wandtafel, tappen Sie in die gähnend leere Falle des Schiltener Gymnastiksaals. Sie befinden sich auf einer mit einer Holzbrüstung verschalten, knarrenden Galerie, von der fünf nicht minder knarrende Stufen in den Turnraum hinunterführen, und dieses Knarren ist bereits ein Symptom seiner Gemütskrankheit. Sie müssen sich vorstellen, wie das früher getönt hat, wenn eine Horde losgelassener Schüler diese Treppe hinunterstürmte. Der Blick fällt auf die spärlichen abgewetzten Geräte, welche durch die großen Rundbogenfenster, von denen vier gegen Norden, zwei gegen Osten gehen, viel zu viel Licht bekommen: ein Reckgerüst, vier Kletterstangen, zwei Barren, ein Schwebebalken, eine einteilige Sprossenwand, ein Klettertau, ein Lederpferd, ein wackliger Korbballständer. Das zweite Netz ist an der Galerieverkleidung festgeschraubt. Die drei vergitterten Lampen gemahnen an Arrestanten-Verhöre. Ein dick bandagiertes Rohr zieht sich der Decke entlang und stößt stumpf in die Mauer, hinter der die sogenannte Mörtelkammer liegt, zugänglich durch eine Tür neben der Treppe. Bis auf Fensterhöhe sind die Wände schabzigergrün gestrichen, in der Oberzone