: Micheline Calmy-Rey
: Die Schweiz, die ich uns wünsche
: Nagel& Kimche im Carl Hanser Verlag
: 9783312006274
: 1
: CHF 13.50
:
: Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
: German
: 240
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Neun Jahre lang war Micheline Calmy-Rey Außenministerin der Schweiz. Wie kaum einer ihrer Vorgänger hat sie die Außenpolitik offensiv gestaltet, mit ihren Stellungnahmen überrascht und durch aktive Teilhabe die Verfechter der Neutralität provoziert. Doch selbst ihre Kritiker räumen ihr Mut und Entscheidungsstärke ein. Nun erzählt Calmy-Rey von ihren Erfahrungen und erläutert die Politik der Schweiz in Europa und in der Welt. Spannend verknüpft sie ihr politisches Credo mit der Erinnerung an die wichtigen Ereignisse ihrer Zeit im Bundesrat. Ein kluges und oft sehr persönliches Buch, das eine mitunter provokante Gegenwartsanalyse der Schweiz bietet.

Micheline Calmy-Rey wurde 1945 in Sion/Wallis geboren und studierte in Genf Politik. 1979 trat sie in die Sozialdemokratische Partei ein und wurde 1981 erstmals ins Genfer Kantonsparlament gewählt. Als Finanzdirektorin im Regierungsrat sanierte sie den Haushalt des Kantons Genf; sie war Mitglied mehrerer Verwaltungsräte und Vorstände sowie Präsidentin der SP des Kantons Genf. 2003 bis 2011 war Micheline Calmy-Rey Mitglied des Schweizerischen Bundesrats und Vorsteherin des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA). 2007 und 2011 war sie Bundespräsidentin. Im Herbst 2011 erklärte sie, bei den nächsten Bundesratswahlen nicht wieder anzutreten. Heute hat sie eine Gastprofessur an der Universität Genf inne.

1. Die Schweiz: Paradox eines Landes,
das sich der Weltöffnet und verschließt


Die Anfänge der Menschheitsgeschichte waren von Landstreitigkeiten, Kriegen, blutigenÜberlebenskämpfen, mangelnder Menschenwürde, Diktatur, Despotismus, Sklaverei und Leibeigenschaft, Ungerechtigkeit und Rechtlosigkeit geprägt.Ökonomisch gesehen stützt sich der griechische Stadtstaat, den wir so bewundern und der so bedeutende Theoretiker des politischen Denkens wie Plato und Aristoteles hervorgebracht hat, auf die Sklaverei. Ein großer Teil seiner Bewohnerinnen und Bewohner war aller bürgerlichen und politischen Rechte beraubt. Sie gehörten nicht sich selbst, sondern waren das Eigentum anderer. Siebenunddreißig Jahrhunderte hat es gebraucht, bis die Menschheit die Sklaverei verurteilte.

Wir haben die Menschenrechte in der Gesetzgebung verankert. Wir arbeiten am weltweiten Frieden mit. Wir wollen Sicherheit für alle Menschen erreichen und orientieren uns am Prinzip der«responsibility to protect».1

Wir kommen manchmal dank eines Konzerts oder einer Radiosendung in den Genuss von Beethovens Neunter Sinfonie, deren wundervoller Schlusschoral an das friedliche Zusammenleben der Menschen appelliert.«Alle Menschen werden Brüder», hat Schiller geschrieben. Dabei müssen wir allerdings anerkennen, dass unsere Ideale und edlen Ziele uns nicht vor Rückschlägen bewahren.

In diesem postmodernen 21. Jahrhundert verändern wundersame technische Entdeckungen in atemberaubendem Tempo das Leben. Während es bis weit ins 19. Jahrhundert hinein manchmal eine ganze Tagesreise brauchte, um von einem Dorf ins nächste zu gelangen, bewegen wir uns heute in der Wirklichkeit des globalen Dorfes. In wenigen Sekunden können wir uns mit den entlegensten Weltregionen verbinden, und die Information aus einer europäischen Hauptstadt erreicht ein Reisbauerndörfchen im hintersten Asien beinahe augenblicklich. Die Lebensbedingungen haben sich in den letzten Jahrzehnten für viele Menschen verbessert; wir haben Krankheiten ausgerottet, an denen unsere Großeltern noch starben. Und wir sind die erste Generation, die sich in diesem Ausmaß um unsere Umwelt und dasÜberleben unseres Planeten kümmert und es zu einer der dringlichsten Aufgaben der weltweiten Politik gemacht hat. Und trotzdem lebt eine Frau in Mosambik nicht wie ich, isst nicht wie ich, arbeitet zwölf Stunden am Tag,über die Erde gebeugt, und erntet doch nur ganz wenig, leidet unter der Trockenheit und dem Ressourcenmangel.2

Es ist Mittag. Kein Lüftchen weht. Die Sonne ist wie aus Blei. Wir wandern in der drückenden Hitze zu einem Brunnen, der von der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit finanziert wurde.3 Der Boden ist weich und sandig, das Gehen anstrengend. An einer Wegbiegung zwei weiße Plastikstühle unter einem Baum, ein Gemüsegarten, ein Viereck aus Backsteinen, eine Hütte und eine Frau. Ich frage sie, ob ich mich setzen darf, sie bringt mir Wasser. Ich frage sie nach dem Zweck der kleinen Mauer. Sie antwortet, dass sie ein gemauertes Häuschen bauen will, aber damit nicht vorankommt, weil sie sehr wenig verdient. Ich habe umgerechnet etwa zwanzig Dollar in meiner Handtasche und gebe sie ihr. Sie sagt:«Mit diesem Geld werde ich genug Backsteine und Zement kaufen können, um mein Haus fertig zu bauen.» Sie lacht und ruft ihre Freundinnen und Nachbarn zusammen. Und sie tanzen. Sie hat zwölf Stunden täglich gearbeitet und weniger als fünfzig Cent pro Stunde verdient. Und so tanzen und tanzen sie. Ich saß da, schaute ihnen zu und schämte mich.

Wir wissen heute, dass dasÜbel, dieses alte Gift der Menschheit, nicht ausgerottet worden ist. Immer noch gibt es Menschen, die verhungern, Kriege folgen auf Kriege, manche Gruppen hassen andere gnadenlos, die Ressourcen des Planeten werden geplündert, das Klima erwärmt sich, ohne dass wir uns darauf verständigen können, der Sache ein Ende zu machen.

Wem soll man die Schuld geben, wenn Millionen von Männern und Frauen nichts zu essen haben und Zehntausende von ihnen jeden Tag verhungern?4 Wenn selbst die elementarsten Bedürfnisse nicht befriedigt werden und das Unrecht herrscht? Wenn die natürlichen Ressourcen geplündert werden und das Klima sichändert? Eine Frau in Burkina Faso kann wegen der Ausbreitung der Wüste keine Felder mehr bebauen.5 Ein Bauer aus dem Mekong-Delta verkauft seine Tochter an Menschenhändler und kauft mit dem Geld Saatgut, um jenes zu ersetzen, das von den Fluten mitgerissen wurde.6 Hat die Menschheit denn jeden Sinn für Werte verloren?

Die Welt verändert sich, und wir wissen, dass systematische Verletzungen der Menschenrechte und der desolate Zustand des Rechtsstaats häufig am Anfang der Konflikte stehen. Und wir wissen auch, dass die Fronten sich auf den Schlachtfeldern verwischen: Bewaffnete Regierungs- und Nichtregierungssoldaten mischen sich, Terroristen und kriminelle Bandenübernehmen das Kommando, Soldaten und Zivilpersonen tauschen ihre Rolle, und die Waffen