15. Juli 1998
Hallo Tagebuch, seit sechs Jahren hab ich dich jetzt und es gibt erst zwei Einträge. Ganz schön armselig. Es hat sich einfach nie eine Schreibroutine eingestellt. Ich mag jetzt auch nicht alles, das ich inzwischen erlebt habe, zusammenfassen, es erscheint mir sowieso komplett belanglos. Jetzt allerdings gibt es doch etwas zu berichten, von dem ich später vielleicht gern mal lesen werde. Ich hab Abi gemacht (Schnitt 1,9!), und außerdem bin ich achtzehn geworden. Davon will ich erzählen.
An dem Tag war eine Open-Air-Disco, wo meine Freunde und ich hingehen wollten. Aber dann wurde Valerie krank, und sie durfte nicht mit. Ihre Eltern sind total schräg, beide Ärzte … Jedenfalls hätte sie sich wegen ihres angeschlagenen Immunsystems angeblich sonst was holen können. Ich war nicht mehr besonders motiviert, mit den anderen hinzufahren, denn ohne Valerie macht alles nur halb so viel Spaß. Ich bin dann aber trotzdem mitgekommen. Und dann hab ich an dem Abend jemanden kennengelernt. Tobi. Ein supernetter Typ, er sieht voll süß aus. So intellektuell. Er hat hellbraune Haare, ist einen Kopf größer als ich, ziemlich schlank und trägt eine Nickelbrille. Irgendwie fand ich ihn direkt zum Knuddeln. Und er kennt sich total gut mit Computern aus, was ich cool finde, weil ich ja seit diesem Sommer selbst einen eigenen PC habe. Tobi studiert in Darmstadt Informatik, er ist fünf Jahre älter als ich.
Jedenfalls haben wir uns beim Bierholen getroffen. Es war total laut um uns rum und so richtig unangenehm voll, das Bier gab es in Halbe-Liter-Plastikbechern. Tobi war mit einem Freund da, der irgendwohin verschwunden war. Während wir auf die Getränke gewartet haben, habe ich ihm über den ganzen Lärm hinweg zugebrüllt, dass ich die Musik furchtbar finde. Der DJ war auf dem Schlagertrip, keine Ahnung, was das sollte. Tobi hat dann gemeint, dass wir doch einfach gehen könnten, an den See in der Nähe zum Beispiel. Also hab ich zusammen mit ihm das Bier bei den anderen abgeliefert, und dann haben wir uns in die laue Sommernacht abgesetzt. Es hat nach Heu gerochen und Tobi nach Sonnencreme. Wir sind dann zu diesem Badesee, wo ich nachmittags mit den anderen schon schwimmen war, dort haben wir es uns am Ufer bequem gemacht. Und dann haben wir gequatscht. Die ganze Nacht. Ich glaube, ich habe mit noch niemandem – außer mit Valerie natürlich – so viel am Stück gequasselt. Wir haben uns unsere kompletten Lebensgeschichten erzählt. Was aber echt das Verblüffendste war: Unsere Weltanschauungen decken sich voll miteinander. Wir denken zum Beispiel, dass in Israel echt dringend ne Lösung hermuss, sonst gibt es da noch Krieg. Und diese ganzen Konflikte auf der Welt, die machen uns Angst. Genauso wie das ganze Waldsterben und die Atompolitik. Ich hab noch nie einen Jungen getroffen, der zugegeben hat, dass er sich vor was fürchtet. Tobi hat mir sogar gestanden, dass er eigentlich voll schüchtern ist, und dass er noch nie jemanden vorher angesprochen hat. Aber mich hätte er unbedingt kennenlernen wollen. Und dann hat er den Arm um mich gelegt, als mir kalt war. Er hat sehr schöne Hände, so stelle ich mir die Hände eines Klavierspielers vor, aber Tobi kann kein Instrument, er spielt nur gern Computerspiele. Er hat mir ein paar aufgezählt, aber ich kannte kein einziges. Außerdem hat er einen schönen Mund, die Lippen sind genau richtig. Wir haben beide keine Geschwister und finden es manchmal belastend, dass alle Aufmerksamkeit auf uns liegt. Er fand es auch ziemlich abgefahren, dass ich bei Papa im Büro nach den Ferien eine Ausbildung anfangen werde. Immerhin hab ich ein gutes Abi, ich könnte ja auch studieren. Aber ich hab es Papa versprochen, und was soll ich machen? Die Lehre fange ich zwar erst in zwei Wochen an, aber ich he