I. Das Buch der Kunst
Um die Entstehung von Dsôn Khamateion ranken sich viele Geschichten.
Und weilte Carmondai, der Meister in Wort und Bild, noch unter uns, ich schwöre, er hätte die besten davon auf eine Weise dargeboten, dass wir gebannt an seinen Lippen hingen und eine jede für die Wahrheit hielten.
Gewiss, auch über ihn berichtet man sich vieles.
Doch dazu ist jetzt nicht die Zeit.
Nun verhält es sich so, dass die Herkunft jener Albae, die sich mit alchemistischen Mitteln vor mehr als eintausend Zyklen als Elben ausgaben, ein Mysterium ist.
Mal soll es sich um einen Stoßtrupp mit der Aufgabe gehandelt haben, das Geborgene Land zu infiltrieren und die nachfolgende große Invasion vorzubereiten;
mal um ein teilaufgeriebenes Heer, das jenseits der Gebirge in eine gewaltige Schlacht gegen Drachen, absonderliche Wesen und verschiedenste Geschöpfe aus dem Volk der Orks verwickelt worden war. Die Überlebenden hatten keine andere Wahl, als sich auf diesem gefährlichen Wege in Sicherheit zu bringen;
und dann gibt es die Behauptung, es handelte sich um in Ungnade gefallene Albae, die ihr Heil in der Flucht suchten, bevor sie in ihrer Heimat jenseits des Außenmeeres hingerichtet worden wären.
Wegen welcher Umstände sie das Vertrauen entzogen bekamen, ist mir jedoch nicht bekannt.
Von einer Invasion wurde Abstand genommen.
Es sei wohl die Absicht gewesen, ins Volk der Elben einzusickern und sich erst nach und nach als Albae zu erkennen zu geben. Um ein friedliches Zusammenleben anzustreben und dank des mitgebrachten neuen Wissens nach Wohlstand für alle zu trachten. Für das gesamte Geborgene Land.
Das Einsickern gelang.
Als jedoch die ersten Mischkinder geboren wurden, bei denen die Besonderheiten der Albae zutage traten, erfuhr Inàstes Volk Ablehnung, Feindschaft und Hass. Die Verfolgung begann erneut. Daher blieb den Albae nichts anderes übrig, als sich eine sichere Bleibe zu erschaffen, wo sie abseits von allen unbehelligt leben konnten.
So entstand Dsôn Khamateion, im Braunen Gebirge, in einem unwirtlichen Teil, den die Kinder des Schmieds vom Stamm der Vierten nicht nutzten, da sie die Steinbrüche darin aufgegeben hatten.
Nach und nach erwuchs die Stadt in den Talkesseln, heimlich und zunächst, ohne entdeckt zu werden, aus Rabenholz, Mondscheineiche und Silberbirke, bis genug Steine geschlagen waren.
Aus Fachwerk wurden massive Gebäude, aus Schnitzereien in Balken und Holzmalerei alsbald Gravierkunst, Bildhauerei und Fresken mit ausgesuchtesten Materialien.
Als sich die Vierten zu einem Kriegszug entschlossen, blieb dem Ganyeios nichts anderes übrig, als sich mit aller Härte zu verteidigen und vorgeschobene Teile des Gebirges zu besetzen.
Erst mit dem Siegeszug der Brigantiner, dem finalen Verlust des vierten Zwergenreichs und den Beben endeten die unaufhörlichen Angriffe der Vierten.
Die goldene Ära von Frieden und Wohlstand begann.
Bis Albae vor den Toren erschienen, die darauf drängten, man müsse das alte Erbe fortführen und das Geborgene Land unterjochen. Unentwegt raunten und flüsterten und predigten sie ihr Ziel.
Sie brachten Unruhe nach Dsôn Khamateion und wurden verbannt, woraufhin sie nach Brandenwall gingen.
Doch die Gemeinschaft in Dsôn hatte einen Riss erhalten. Die verlockenden Worte von mehr Macht waren auf fruchtbaren Boden gefallen.
Auch der Ganyeios verlor an Autorität und Einfluss, bis die Zhussa Ascatoîa die Herrschaft an sich riss, um mit ihren Drachen sowie dem Volk der Albae einen Krieg gegen das Geborgene Land zu führen.
Doch Ascatoîa verlor ihre magischen Kräfte, und die Geschuppten wandten sich gegen sie.
Das war das Ende von Dsôn Khamateion.
Aufzeichnungen von Khitâburàs,
undatiert
Kapitel1
Das Geborgene Land, Braunes Gebirge, Ruinen von Dsôn Khamateion,1035 n. B. (7526. Sonnenzyklus nach alter Zeitrechnung), Spätwinter
Lautlos glitt die Stake ins schwarzblaue Wasser, in dessen Tiefe es unentwegt blitzte und flirrte, als tobte unter der Oberfläche ein Gewitter. Durch das kraftvolle Abstoßen der Stange vom steinigen Untergrund schob sich der kunstvoll geschnitzte, fünf Schritt lange Flachkahn vorwärts. Mit kaum hörbarem Plätschern glitt er in die umspülten Ruinen, die einst prachtvolle Bauten rund um den Platz des Westwindes gewesen waren.
Hier neigte sich eine hohe Fassade aus dem Wasser, als fiele sie jeden Augenblick in sich zusammen; da reckten sich Pfeiler einer zerstörten Brücke wie gigantische Finger empor, als suchten sie Halt oder, die Götter anklagend, nach dem Sinn ihres Überdauerns; und dort stemmten sich halb zerstörte, abstrakte Kunstwerke von etlichen Schritt Durchmesser auf ihren zerfallenden Marmor- und Bronzesockeln über die Fluten. Erblindete Spiegelelemente an den beschädigten Stücken reflektierten kaum mehr das Licht der untergehenden Sonne.
Im Hintergrund des Panoramas des Untergangs erhoben sich verschneite Gipfel und Hänge des Braunen Gebirges, teils von Dunst und Wolken umhüllt, während über allem das abenddämmernde Firmament mit schwach grau funkelnden Gestirnen prangte.
Nach einem Teil der Unendlichkeit sah man den alten Glanz, die Kunstfertigkeit, das architektonische Können der Baumeister kaum mehr.
Die Witterung hatte die Stadt verschlissen. Gelegentlich aufsteigende ätzende Dämpfe griffen die Steine weiterhin an, teils zerbröckelten die behauenen Quader, teils lagerte sich dickflockige Patina darauf ab und machte die beste Gravurarbeit zunichte. Selbst die Balken aus schwarzem Rabenholz, grau gemasertem Eisenholz und sogar Steineiche verloren ihre Beständigkeit.