Tod eines Tauchers
Capitaine Roger Blanc stand mit bloßen Füßen auf dem warmen Stahldeck eines Schiffes. Die weißen Aufbauten reflektierten die Mittagssonne so grell, dass seine Augen trotz der getönten Brille schmerzten. Das Wasser war glatt und klar, als wäre dieAndré Malreaux in eine türkisfarbene Glasfläche eingeschmolzen. Die Kette am Bug reichte bis in zehn, vielleicht sogar fünfzehn Meter Tiefe, wo sich der Anker in einen Teppich aus braungrünen, sanft in der Strömung schwingenden Pflanzen gegraben hatte. Ein Schwarm handgroßer, silbriger Fische umschwamm die eisernen Glieder.
Etwa hundert Meter rechts von Blanc strichen träge Wellen gegen eine beinahe lotrechte Felswand, die den Himmel begrenzte. Der grauweiße Kalkstein war uralt, von Rissen und Spalten zerfurcht, am Meeressaum dunkel und glänzend vor Feuchtigkeit, darüber trocken wie Kreide. Dicht unter dem Kamm lagen rote Gesteinsbrocken frei, aus denen der Regen über Äonen die Farbe in langen Fäden ausgewaschen hatte.Calanque des Roches Sanglantes wurde die Bucht genannt, die Calanque »der blutenden Felsen«. Dunkle Kammern öffneten sich auf halber Höhe der Klippen und erinnerten Blanc an leere Augenhöhlen. Pinien krallten sich mit verknoteten Wurzeln über dem Abgrund fest, ihre Äste streckten sich dem Licht entgegen.
Die Sonne brannte auf Blancs nackten Unterarmen, mit jedem Atemzug schmeckte er Rosmarin, Thymian und Salz auf den Lippen. Er schüttelte ungläubig den Kopf. »Wir haben den ersten Oktober, aber es ist, als hätten wir Hochsommer. Das fühlt sich nicht echt an.«
»Echter als ein Freudenmädchen«, erwiderte sein Freund und Kollege Lieutenant Marius Tonon gelassen. Er lehnte neben ihm an der Reling und prostete ihm mit dem Becher seiner Thermoskanne zu, in die er einen »Kaffee« gekippt hatte, der nicht gerade nach gerösteten Bohnen duftete. »Das sieht hier immer so aus.«
»Wir sollen auf diesem Schiff arbeiten. Aber wir haben nichts zu tun und braten in der Sonne. Das ist zu schön. Da stimmt etwas nicht.«
»Wir könnten eine Runde schnorcheln, falls du dich langweilst«, schlug Marius gut gelaunt vor. »Das Wasser ist noch mindestens zweiundzwanzig Grad warm. Die silbernen Fische unter uns, das sindSaupes, die ›Rinder des Meeres‹. Die knabbern die Pflanzen von den Felsbrocken und sind so blöd, dass du sie mit der Hand fangen kannst. Wir könnten uns auch einen Seeigel holen, seine Schale knacken und ihn mit einem Stück Baguette ausschlürfen.«
»Den ganzen rohen Seeigel?«
»Nur seinen Schließmuskel. Köstlich.«
Blanc verzog das Gesicht. »Du weißt genau, was ich meine«, erklärte er und blickte sich um. »Dieser Job muss einen Haken haben. Wir sind nicht hier, um die Schließmuskeln von Seeigeln zu essen. Wir räumen Scheiße weg.«
Commandant Nicolas Nkoulou hatte sie am frühen Montagmorgen auf dieAndré Malreaux beordert. Mehr als eine Stunde lang hatte Nkoulou Blanc und Marius zuvor in seinem Büro instruiert. Blanc tat nun schon seit einem Vierteljahr Dienst in der Gendarmeriestation von Gadet, doch alle seine bisherigen Besuche im Büro des Commandanten zusammengenommen hatten nicht so lange gewährt wie dieser eine.
AlsCalanques wurde, wie Nkoulou ihm ausführlich erklärt hatte, die zerklüftete Felsenküste westlich und östlich von Marseille bezeichnet. Blanc hatte schon vom karibischen Wasser und von harzigen Pinien gehört, von halsbrecherischen Wanderwegen zwischen mürbem Gestein – und von abendlichen Pétanque-Partien vor denCabanes, den Ferienhäusern jener Glücklichen, die in den Naturschutzgebieten gebaut hatten, als das zwar schon illegal gewesen war, aber noch niemand so genau hingesehen hatte. Er war jedoch noch nie dort gewesen.
»Ein Taucher hat dort vor ein paar Wochen unter Wasser eine Höhle entdeckt«, hatte Nkoulou erklärt. »Die Höhle ist so verwinkelt, dass es lebensgefährlich wäre, dort einzudringen. Aus gewissen Erwägungen hat sich unsere Regierung deshalb entschlossen, den Zugang zu versperren.«
Marius hatte gelacht und gerufen: »Eine zweite Cosquer-Höhle?«
Blanc hatte diesen Namen schon einmal irgendwo gehört, aber er erinnerte sich an keine Einzelheiten mehr.
»Die Höhle, die man 1985 entdeckt hat«, hatte Marius eingeworfen. »Die Höhle mit den Steinzeitbildern, Bären, Löwen, solche Sachen. Tausende Jahre alt und sehr empfindl