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Mir bleibt nicht viel Zeit, meine Geschichte zu erzählen. Es ist nur noch eine Frage von Stunden, wenn wir Glück haben vielleicht einem Tag, bis sie uns finden.
Wie bin ausgerechnet ich, der stille, folgsame Niri, zu einem Dieb auf der Flucht geworden? Wie wird ein Mensch zu dem, der er ist?
Die Wahrheit ist: Ich weiß es nicht. Um meiner Schwester zu helfen, habe ich eine Grenzeüberschritten. Eine Grenze, von der ich zuvor nicht gedacht habe, dass ich jemals auch nur in ihre Nähe kommen würde.
Ich fühlte mich hilflos und entschloss mich zu handeln. Eine Tat führte zur nächsten, nicht, weil ich einen bestimmten Plan gehabt hätte, sondern einfach, weil wir nie stehen bleiben, weil das Leben kein Film ist, den wir anhalten oder zurückspulen können.
Ich habe nicht davon geträumt, ein Held zu sein. Was ich getan habe, hat mich in den Augen vieler Menschen zu einem gemacht, aber es war den Umständen geschuldet, und für diese Umstände konnte ich nichts.
Habe ich eine Wahl gehabt? Blicke ich zurück, mag es so scheinen. Aber in den Momenten, in denen ich mich entscheiden musste, kam es mir nicht so vor.
Ich habe mir die Freiheit genommen, in meiner Not nicht langeüber die Konsequenzen meines Handelns nachzudenken. Ich habe nie geglaubt, dass ich die Welt retten kann. Höchstens ein paar Menschen vor Krankheit, Hunger und Tod.
Alles begann damit, dass meine kleine Schwester im Schlaf weinte.
Eigentlich war es kein Weinen, sondern ein schwaches, von Husten unterbrochenes Wimmern. Trotz der Hitze war sie ganz dicht an mich herangerutscht, hatte einen Arm auf meinen Bauch gelegt, ihr warmer Atem strichüber meine Haut. Sie schluchzte – und ich wusste nicht, was ich machen sollte.
Aber vielleicht hatte auch alles schon viel früher begonnen: auf einem Markt in China, wo jemand ein Schuppentier oder eine Fledermaus kaufte und sich dabei mit einem Virus infizierte; oder in einem Labor, wo eine Unachtsamkeit genügte, um etwas freizusetzen, das von dort um die Welt reiste, bis es vermutlich meine Tante tötete.
Möglicherweise begann alles auch noch viel früher, nämlich in dem Moment, als meine Eltern beschlossen, ihr Land zu verlassen, weil sie glaubten, in der Fremde ihr Glück zu finden. Oder zumindest weniger Unglück.
Wer weiß schon, wann und wo Geschichten ihren Anfang nehmen und wann und wo sie ihr Ende finden? Das Leben ist ein Kreislauf, sagt mein Vater. Wir werden geboren, wir sterben, wir werden wiedergeboren … Es ist sinnlos, nach Anfängen und Enden zu suchen.
Meine Schwester zitterte, als würde sie frieren.
Ich schwitzte.
Am Tage waren es fast vierzig Grad gewesen, und in unserer Hütte staute sich die Hitze wie Wasser hinter einem Damm. Die Nächte brachten nur wenig Abkühlung. Hungrige Moskitos summten um unsere Köpfe, eine Spinne kroch mir das Bein hoch, ich versuchte gar nicht erst, sie abzuschütteln, ich wollte meine Schwester nicht wecken. Wir lagen auf unserer Matte aus Bast, es musste nach Mitternacht gewesen sein, die Stimmen des Abends waren verstummt. Der alte Trinker in der Hütte nebenan rührte sich nicht mehr. Das streitsüchtige Paar gegenüber musste vor Erschöpfung eingeschlafen sein. Und auch im Verschlag der Witwe mit ihren sechs Kindern und noch mehr Liebhabern herrschte endlich Ruhe.
Neben uns schliefen unsere Eltern. Ich hörte es am Schnarchen meines Vaters und an dem schweren, von gelegentlichem Husten unterbrochenen Atem meiner Mutter. Auch sie war krank. Vielleicht hatte sie sich bei ihrer Schwester angesteckt. Sie hustete jedenfalls, war fiebrig und wurde von Tag zu Tag schwächer. Es konnte Malari