: Sigrid Grabner
: Mahatma Gandhi - Politiker, Pilger und Prophet Biografie
: EDITION digital
: 9783965216631
: 1
: CHF 7.90
:
: Romanhafte Biographien
: German
: 315
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Wer berühmte Menschen der Weltgeschichte und ihr Handeln verstehen will, der tut gut daran, sich mit deren Biografie zu beschäftigen. Das gilt auch für diesen Mann, dessen Namen noch immer einen fast heiligen Klang hat - Mahatma Ghandi. Aber wie ist der indische Freiheitskämpfer und Weltveränderer zu dem Menschen geworden, der er war und der eine völlig neue Sicht auf die politischen Auseinandersetzungen erfand und predigte - den gewaltlosen Kampf, eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit und zunächst nur schwer zu verstehen. Wo liegen die Wurzeln für seine Anschauungen und für seine Kraft, für diese Ansichten auch energisch einzutreten und viele Millionen Menschen mitzureißen, obwohl Ghandi noch während seines frühen England-Aufenthaltes etwas große Schwierigkeiten bereitete: Das Schreiben ging ihm leicht von der Hand, doch fiel es ihm schwer, vor vielen Menschen zu reden. Wenn er die Augen eines erwartungsvollen Auditoriums auf sich gerichtet sah, war ihm die Zunge wie gelähmt. Ein anderer musste die Rede für ihn verlesen. Doch dann macht der junge Mann eine entscheidende Entdeckung: Das Buch, welches sein weiteres Leben entscheidend bestimmen sollte, lernte er im zweiten Jahr seines Londoner Aufenthalts kennen. Eines Tages fragten ihn englische Freunde, ob er die Bhagavadgita kenne. Die Bhagavadgita - 'Gesang vom Erhabenen' - ist eine Episode aus dem indischen Heldenepos 'Mahabharata', das zwischen dem fünften und dem zweiten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung entstand. Als die Heere der Pandawas und Kaurawas aufeinandertrafen, zögerte der Held der Pandawas, Arjuna, den Kampf gegen seine Verwandten im Heer der Kaurawas aufzunehmen. Sein Wagenlenker gab sich ihm als Gott Krishna zu erkennen und überzeugte ihn, dass er ohne Rücksicht auf die Folgen pflichtgemäß handeln müsse. Dieses religionsphilosophische Gedicht in achtzehn Gesängen gilt als heiliges Buch der Hindus. Gandhi hatte den Vater manchmal daraus rezitieren hören, ohne viel vom Inhalt zu verstehen. Nun las er es in der englischen Übersetzung. Die Lektüre elektrisierte ihn geradezu. Das war es, wonach er so lange gesucht hatte - ein ethischer Leitfaden zum Handeln. Dieses Beispiel möge genügen, um auf diese Ghandi-Biographie von Sigrid Grabner neugierig zu machen, die besser verstehen lässt, wie dieser indische Freiheitskämpfer und Weltveränderer zu jenem Menschen geworden ist, dessen Namen noch immer eine fast heiligen Klang hat: Mahatma bedeutet übrigens 'die große Seele'.

Am 29.10.1942 in Tetschen-Bodenbach geboren, ab 1947 in Merseburg. Nach dem Abitur in Halle und einjährigem Praktikum in der Landwirtschaft studierte sie von 1962-1967 an der Berliner Humboldtuniversität Kulturwissenschaft und Indonesienkunde, 1972 Promotion. Seit 1972 freischaffende Schriftstellerin. Sie lebt in Potsdam, war mit dem Schriftsteller und KZ-Überlebenden Hasso Grabner verheiratet und hat zwei Kinder. 1992 Ehrengast der Villa Massimo 2000 Stipendiatin im Künstlerhaus Schloss Wiepersdorf
'Der Mahatma zündet seine Kerze an beiden Enden an', sagten die Freunde, wenn sie von den übermenschlichen Anstrengungen sprachen, mit denen sich der greise Gandhi gegen die Woge von Gewalt und Fanatismus stemmte. Am Morgen des 7. Januar 1947 bei Sonnenaufgang begann Gandhi seine Pilgerschaft. In seinem Gepäck befanden sich neben den Dingen des täglichen Gebrauchs eine Anzahl religiöser Bücher aller Weltreligionen, Wörterbücher und ein Exemplar von Jawaharlal Nehrus Buch 'Die Entdeckung Indiens'. Gestützt auf einen langen Bambusstab, schritt der alte Mann barfüßig über die blutgetränkte Erde Ostbengalens, auf den Lippen das Lied von Rabindranath Tagore: 'Wenn niemand deinen Ruf erwidert, geh allein. Wenn sie sich fürchten und stumm gegen die Wand drücken, öffne deinen Geist und sprich allein./Wenn sie sich abwenden und dich verlassen, wenn du die Wildnis durchschreitest, zertritt die Dornen unter dir, und entlang der blutigen Spur geh allein./Wenn sie nicht das Licht hochheben in der sturmgepeitschten Nacht, mit der Donnerflamme des Schmerzes entzünde dein eigenes Herz, und lass es brennen allein.' Kein bewegenderes Bild ist vorstellbar als die Gestalt des einsamen Pilgers inmitten einer wahnsinnig gewordenen Welt. Feindschaft brandete ihm entgegen, doch sie brach sich an ihm wie an einem Fels. In Noakhali wurde eines der ruhmvollsten Kapitel in der Geschichte der Menschlichkeit geschrieben. Seine eigene Verzweiflung überwindend, gab der greise Gandhi der Welt ein Beispiel. Sein Weg führte über schwankende Bambusbrücken und schmale Fußpfade, durch zerstörte Dörfer und eine Landschaft, deren Liebreiz in schreiendem Gegensatz zu den hier verübten Verbrechen stand. Schon am zweiten Tag bluteten die Füße des Mahatma, aber nichts konnte ihn dazu bewegen, Sandalen anzuziehen. Aufgehetzte Moslems bestreuten die Wege mit Dornen, verunreinigten sie mit Kuhdung und menschlichen Exkrementen. Gandhi säuberte die Pfade mit trockenen Blättern und wehrte jenen, die ihm die schmutzige und mühselige Arbeit abnehmen wollten, mit den Worten: 'Ich tue es gern. Mir schadet es nichts, und ihnen hilft es, Dampf abzulassen.' So zog er zwei Monate lang von Dorf zu Dorf, nächtigte unter primitivsten Bedingungen in neunundvierzig Ortschaften im Gebiet von Noakhali und in sieben im Nachbarbezirk von Tipperah. Insgesamt wanderte er einhundertfünfundachtzig Kilometer durch das Land. Jeden Moslem am Weg grüßte er, auch wenn er keine Antwort erhielt. Er stand vor den während der Exzesse Hingemetzelten, aber er verlor sich nicht in Trauer. 'Es ist nutzlos', erklärte er, 'sich Gedanken über die Toten hinzugeben. Worum wir uns kümmern müssen ist, dass in Zukunft niemand mehr so stirbt wie sie.' Dagegen rühmte er jene, die eher in den Tod gegangen waren, als davonzulaufen oder sich einen anderen Glauben aufzwingen zu lassen. Um Mensch zu sein, bedarf es des Mutes. Diesen Mut lehrte Gandhi durch die eigene Tat. Selbst seinen Gegnern flößten sein eiserner Wille und seine Furchtlosigkeit Bewunderung ein. Den bedrängten Hindus von Noakhali erschien er wie ein Gott. Ein alter Mann begrüßte Gandhi mit den Worten: 'So lange haben wir Figuren aus Stein angebetet, aber nun erblicken wir einen Gott in Menschengestalt.' Der so Geehrte, jeglichem Personen- und Götterkult abhold, wies den Mann freundlich zurecht, dass steinerne Götter auf jeden Fall besser seien als menschliche, denn sie könnten wenigstens kein Unheil anrichten. Gandhi mochte kein Pathos, keine leeren Worte, keine erstarrten Symbole. Als man ihn bat, anlässlich der achtzehnten Wiederkehr der Unabhängigkeitserklärung durch den Kongress die Nationalflagge zu hissen, lehnte er ab. Seine Begleiter verstanden ihn nicht, hatte er sich dieses Zeremoniell doch niemals entgehen lassen, nicht einmal während der Haft in Poona oder danach, als die Briten besonders empfindlich darauf reagierten. Warum also jetzt? Trauer schwang in Gandhis Stimme, als er erwiderte: 'Ich konnte damit gegen die Briten kämpfen. Aber wen soll ich hier bekämpfen? Meine eigenen Brüder? Die Moslems mögen sie (die Flaggenhissung, d. Verf.) tolerieren und nichts sagen. Aber ich weiß, dass sie innerlich empört darüber wären. Das möchte ich nicht. Ich habe eine dreifarbige Fahne gewählt, um alle Religionen, alle Gemeinschaften und das ganze Volk Indiens zu symbolisieren - Hindus, Moslems, Parsen, Christen und Sikhs. Sie alle betrachteten sie einst als ihre Fahne. Viele haben ihr Leben für sie gegeben. Aber heute sind wir in finstere Zeiten zurückgefallen. Wenn wir nicht aufwachen, wird die kommende Unabhängigkeit zu einem leeren Traum.' Gandhi erkannte, dass die nationale Einheit, noch ehe sie staatliche Gestalt annehmen konnte, zerbrach. Wie sehr ihn auch die Teilung Indiens erschreckte, in Ostbengalen sah er, dass an Pakistan wahrscheinlich kein Weg mehr vorbeiführte. Praktisch ging es nur noch darum, dass das indische Volk souverän und friedlich über eine Teilung entschied. Doch das Rad der Gewalt, einmal in Bewegung gesetzt, folgt seinen eigenen Gesetzen. Es zermalmt Schuldige und Unschuldige gleichermaßen. Der Widerstand der Moslems gegen Gandhi erreichte in dem Dorf Bishkatali seinen Höhepunkt. Hier hatten vor dem blutigen Aufruhr dreihundertsechs Hindus inmitten von viertausendsechshundertvierundneunzig Moslems gelebt. Jetzt waren ihre Häuser zerstört, die Überlebenden geflohen. An den Bäumen klebten handgeschriebene Plakate, die sich an Gandhi richteten: 'Denk an Bihar und verschwinde sofort aus Tipperah. Wir haben dich oft genug gewarnt, und noch immer bist du hier. Hau ab, sonst wird es dir schlecht ergehen!' - 'Geh, wohin du willst. Gib deine Heuchelei auf und akzeptiere Pakistan.' - 'Es lebe die Moslemliga! Es lebe ihr großer Führer! Es lebe Pakistan! Nieder mit dem Kongress!' Gandhi las alles aufmerksam und setzte seinen Weg fort. Er hielt seine abendlichen Versammlungen ab, gleichgültig, wie viele Menschen kamen, rezitierte aus dem Koran und der Gita und stellte sich den Fragen seiner Zuhörer. Wo sich ein Moslem bereit fand, ihm Unterkunft zu gewähren, nahm er dankbar an. Aber er zeigte weder Ärger noch Enttäuschung, wenn ein moslemischer Gastgeber in letzter Minute von seinem Angebot zurücktrat, weil er die Schikanen der Moslembanden fürchtete. Dann nächtigte Gandhi zwischen Ruinen. Mit äußerster Härte gegen sich selbst und in tiefer Liebe zu seinem Volk trat er vor die Menschen und predigte Brüderlichkeit und Vernunft.