Prolog
Sie war aufgewacht, weil jemand zeterte. Es klang wie das aufgeregte Gekläff eines kleinen Hündchens, das noch nicht genau weiß, aus welcher Richtung die Gefahr droht. Die alte Frau hob den Kopf vom Fenster, rieb sich den Nacken, wo die Kälte der Klimaanlage tief in ihre Knochen gedrungen war, und versuchte, sich aufzurichten. In den ersten verschwommenen Sekunden des Wachseins wusste sie nicht genau, wo oder wer sie war. Sie nahm Stimmen wahr, dann konnte sie Wörter unterscheiden, die sie aus ihrem traumlosen Schlaf in die Wirklichkeit zerrten.
«Ich sage ja gar nicht, dass ich die Paläste nicht mag. Oder die Tempel. Ich sage nur, dass ich schon zwei Wochen hier bin und nicht das Gefühl habe, das wahre Indien auch nur annähernd kennengelernt zu haben.»
«Was glaubst du denn, was ich bin?» Das kam vom Vordersitz, die Stimme klang leicht spöttisch.
«Du weißt schon, was ich meine.»
«Ich bin Inder. Ram hier ist Inder. Nur weil ich mein halbes Leben in England verbracht habe, bin ich nicht weniger ein Inder als die Inder hier.»
«Ach hör doch auf, Jay, du bist doch nun wirklich nicht typisch.»
«Typisch für was?»
«Ich weiß nicht. Für die Menschen, die hier leben.»
Der junge Mann schüttelte verständnislos den Kopf. «Du willst Elendstourismus betreiben. Du willst nach Hause fahren und deinen Freunden von all den schrecklichen Dingen erzählen können, die du gesehen hast. Ihnen sagen, dass sie keine Ahnung von all dem Leid haben. Und alles, was wir dir geboten haben, ist Coca-Cola und eine Klimaanlage.»
Gelächter. Die alte Frau blinzelte und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Es war beinahe halb zwölf: Sie hatte fast eine Stunde geschlafen.
Ihre Enkelin neben ihr beugte sich nach vorn und streckte den Kopf zwischen den Vordersitzen hindurch. «Schau mal, ich will doch nur etwas sehen, das mir zeigt, wie die Menschen hier wirklich leben. Ich meine, die Fremdenführer wollen uns immer nur die Prinzenresidenzen oder die Einkaufszentren zeigen.»
«Also willst du in die Elendsviertel.»
Vom Fahrersitz kam die Stimme von Mister Vaghela: «Ich kann Sie leider nicht mit zu mir nach Hause nehmen, Miss Jennifer. Das wäre nämlich tatsächlich eine Elendsbehausung.»
Als die beiden jungen Leute nicht auf seine Bemerkung eingingen, hob er die Stimme: «Sehen Sie sich Mister Ram B. Vaghela hier genau an, dann finden Sie alles zusammen: die Armen, die Geknechteten und die Vertriebenen.» Er zuckte die Achseln. «Wissen Sie, es ist mir selbst unbegreiflich, wie ich so lange überleben konnte.»
«Wir wundern uns auch fast täglich darüber», warf Sanjay ein.
Die alte Frau setzte sich auf und überprüfte im Rückspiegel ihr Aussehen. Ihre Haare waren auf einer Seite ganz plattgedrückt, und der Kragen hatte eine tiefe rote Delle in ihrer blassen Haut hinterlassen.
Jennifer schaute sich um. «Geht’s dir gut, Großmama?» Das ärmellose Top war verrutscht und entblößte ein kleines Tattoo auf ihrer Hüfte.
«Alles gut, meine Liebe.» Hatte Jennifer ihr eigentlich von diesem Tattoo erzählt? «Es tut mir leid. Ich muss eingenickt sein.»
«Dafür müssen Sie sich nicht entschuldigen», sagte Mister Vaghela. «Wir reiferen Mitbürger sollten uns jederzeit ausruhen dürfen, wenn wir das Bedürfnis danach verspüren.»
«Willst du damit sagen, dass ich fahren soll, Ram?», fragte Sanjay.
«Nein, nein, Mister Sanjay, Sir. Ich würde Ihren b