Willkommen in Niedermühlenbach
Willkommen in Niedermühlenbach! Nur wenige Meter hinter dem Ortseingangsschild stand ein großer Basaltstein mit dem eingravierten Willkommensgruß. Clarissa bremste; nicht, weil sie den Wunsch hatte, die weiteren Inschriften auf dem Stein zu entziffern, sondern weil keine zehn Meter vor ihrem Auto eine Kuhherde die Straße passierte. Gemächlich trotteten die Tiere vorwärts. Clarissa schaltete den Motor aus und ließ vorsichtig die ewig verspannte rechte Schulter kreisen. Die Zwangspause gab ihr immerhin die Gelegenheit weiterzulesen.Schönstes Dorf des Jahres 2001 und 2002 – na, das klingt ja vielversprechend, dachte sie.
Dicht an dicht schoben sich die schweren braunen Leiber über die Straße. Die letzten Nachzügler waren endlich auf der anderen Seite angekommen. Was Clarissa irritierte, war, dass den Kühen niemand folgte. Kein Landwirt, kein Kuhhirte, niemand. Mussten solche Tiere nicht zusammengehalten werden? Anscheinend wussten die Kühe auch ohne Begleitung genau, wohin sie gehen mussten. Clarissa schüttelte verwundert den Kopf. »Willkommen in Niedermühlenbach«, murmelte sie, startete die Zündung und fuhr weiter.
Nach dem Ortsschild war erst mal nichts mehr, keine Höfe mit Ställen, keine Wohnhäuser, nur eine gewundene, steil ansteigende Landstraße. Das machte das plötzliche Auftauchen der Kuhherde noch mysteriöser. Sie fragte sich gerade, ob sie irgendeine Abzweigung verpasst hatte, als die Straße eine scharfe Rechtskurve machte – und da lag vor ihr in einem kleinen Tal Niedermühlenbach. Clarissa bremste erneut, lenkte das Auto rechts auf den Grünstreifen und hielt an, um das Dorf zu betrachten. Normalerweise wäre sie nie auf die Idee gekommen, im laufenden Verkehr zu halten, um sich etwas anzusehen, aber hier sollte das wohl kein Problem sein. In den letzten zehn Minuten war sie mutterseelenallein auf der Landstraße gewesen, abgesehen von der Kuhherde natürlich. Das Moseltal lag nur wenige Kilometer entfernt, sie befand sich sozusagen im Hinterland, oberhalb der Mosel, da gab es augenscheinlich deutlich weniger Verkehr. Weniger Verkehr, dafür mehr herrenlose Kühe.
Niedermühlenbach war ein altes Dorf. Die meisten Häuser waren aus Bruchstein erbaut und besaßen schiefergedeckte Dächer. Hier und da gab es altes Fachwerk, einzelne Nebengebäude aus grau verwittertem Holz und am Dorfrand einige wenige moderne Einfamilienhäuser. Ein Bach schlängelte sich zwischen den Häusern hindurch. Soweit Clarissa das erkennen konnte, gab es zwei kleinere Brücken über diesen Bach. Mittelpunkt des Dorfes war ein Marktplatz, der auf der einen Seite von dem Bach begrenzt wurde. Ein Teil der Straßen rund um den Marktplatz und zwischen den Häusern schien noch mit Kopfsteinpflaster versehen zu sein. Oberhalb des Marktplatzes, auf einer kleinen Anhöhe, stand eine weiß verputzte Kirche. Das Ganze machte in der Märzsonne einen so friedlichen und idyllischen Eindruck, dass Clarissa die Auszeichnung »Dorf des Jahres« durchaus nachvollziehen konnte. Jede Wette, dass später im Frühling an den meisten Bruchsteinhäusern große Blumenkästen zusätzliche Farben ins Bild bringen würden. Clarissa fuhr wieder los. Während sie gemächlich i