: Peter Härtling
: Felix Guttmann Roman
: Verlag Kiepenheuer& Witsch GmbH
: 9783462300833
: 1
: CHF 8.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 254
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Der Protagonist, geboren 1906, wächst behütet auf und beginnt in Berlin das Leben eines jungen Anwalts mit Zukunft. Distanziert beobachtet er die politischen Geschehnisse und versucht, sich der täglichen Gewalt und bindenden Verpflichtungen zu entziehen. Erst nach der 'Machtergreifung' fühlt er sich als Jude und hilft den Exilierten, bis er, spät genug, selbst nach Palästina entkommt. Trotz aller Schrecken fühlt er sich weiterhin als Deutscher und kehrt nach Kriegsende zurück. (Stiftung Lesen ).

Peter Härtling, geboren 1933 in Chemnitz, gestorben 2017 in Rüsselsheim, arbeitete zunächst als Redakteur bei Zeitungen und Zeitschriften. 1967 wurde er Cheflektor des S. Fischer Verlages in Frankfurt am Main und war dort von 1968 bis 1973 Sprecher der Geschäftsführung. Ab 1974 arbeitete er als freier Schriftsteller. Peter Härtling wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Hessischen Kulturpreis 2014 und dem Elisabeth-Langgässer-Preis 2015. Das gesamte literarische Werk des Autors ist lieferbar im Verlag Kiepenheuer& Witsch, zuletzt erschien sein Roman »Gedankenspieler« (2018).

2Das grüne Floß


Kindheiten sind, wie alle Anfänge, einander ähnlich und dennoch unvergleichbar. Das erste Glück, der erste Schreck, die erste Angst, die erste Liebe. Zum ersten Mal eine fremde Gegend erkunden, zum ersten Mal allein im Garten, im Hof sein, zum ersten Mal allein in der Wohnung schlafen, zum ersten Mal einen Freund finden, zum ersten Mal die Eltern belügen, zum ersten Mal die eigene Haut spüren wie eine fremde, zum ersten Mal verreisen, zum ersten Mal die Berge oder das Meer sehen, zum ersten Mal eine Taste auf dem Klavier niederdrücken, zum ersten Mal auf eine Straßenbahn aufspringen.

Wie soll ich mit ihm beginnen?

Er sitzt im Gras, nicht auf einer Wiese, auf einem winzigen Rasenfleck, einem grünen Floß, das von fünf weiteren Flößen begleitet wird, die ein schmaler Kiesstreifen voneinander trennt. Manchmal sind zwei oder drei Flöße von Kindern aus den Häusern, die den Hof umschließen, besetzt. Die Häuser ragen hoch hinauf, sechs Stockwerke.

Er hat sein Floß nicht selber entdeckt und erobert. Elena hat ihn, unter begütigendem Gemurmel, in den Hof hinuntergetragen, auf dem grünen Viereck abgesetzt, ihn mit einer gelb angemalten Ente und einem Stoffesel allein gelassen. Er solle sich nicht schmutzig machen und das Sonnenhütchen nicht vom Kopf reißen. Ihr Schatten fiel über ihn, und ihre aufgeregte Freundlichkeit war ihm lieber als die Sonne, die Elena für gesund hielt. Dann zog sie sich schrittchenweise zurück, und er wußte nicht, ob er gleich schluchzen solle, um sie zurückzuholen, oder ob es sich nicht doch lohne, das Floß auszuprobieren und die andern Kinder im Hof zu beobachten. So blieb er still, blickte sich um. Die Kinder kamen näher, setzten sich auf eins der andern Flöße, starrten ihn an, aber sie redeten und spielten nicht mit ihm. Auch später nicht, als er ohne Elenas Hilfe in den Hof konnte und schon viel mit sich selber sprach. Etwas an ihm schien die Kinder zu bremsen. Er war feiner angezogen als sie, und keines wurde wie er regelmäßig von einer Elena besucht, sondern ab und zu rief es aus einem der Fenster, und dann sauste eines der Kinder ins Haus.

Bald liegen neben dem Esel, den er schont und liebt, Bücher im Gras. Er gibt vor, sie lesen zu können, blättert eifrig, spricht auf die aufgeschlagenen Seiten ein, betrachtet immer wieder die Bilder, auf denen Kamele und Beduinen durch die Wüste ziehen, herausgeputzte Damen unter Sonnenschirmen auf Parkwegen spazierengehen oder Matrosen an der Reling eines gewaltigen Schiffes aufgereiht stehen und salutieren. Auf seinem Lieblingsbild blickt der Kaiser, geschützt von einem Baldachin, angestrengt in die Ferne. Das ist der Kaiser, hat ihm Elena erklärt, als er fragte, wer der traurige Mann in der schönen Uniform denn sei. Wenn Papa auf den Kaiser zu sprechen kam, veränderte sich seine Stimme, wurde feierlich. Er sagte nie nur, wie Elena: der Kaiser. Er sagte stets: Unser Kaiser. So, als wären die beiden Wörter zusammengewachsen.

Zum Mittagessen holt