Die Magie im Harn
Vielleicht hat nichts meinen Sinn fürs große Zeremoniell, den ich später als Großmeister der ägyptischen Loge unter Beweis stellte, mehr geprägt als die mit Pomp in Szene gesetzten heiligen und weniger heiligen Umzüge meiner Heimatstadt, in Sonderheit die große Karfreitagsprozession, die wir Buben als Fortsetzung des Karnevals betrachteten.
Wie immer am hl. Karfreitag versammelten wir uns nach Sonnenuntergang auf dem Cassaro, wie bei uns der Corso genannt wird, und blickten gespannt in Richtung des Doms, von wo die Prozession ihren Ausgang nahm. Ob groß, ob klein, ob alt, ob jung, alles war in dieser Nacht auf den Beinen, und alle Balkone waren besetzt. Da der Umzug fast die ganze Nacht andauerte, durften wir Kinder auch die ganze Nacht aufbleiben. Außerdem gab es reichlich Konfekt, Gebackenes und Limonade.
Wer von meinen Kameraden würde wohl diesmal im Zug der Knaben mitlaufen dürfen, der stets auf den Fackelzug der maskierten Kapuzenmänner folgte? Dem Aufmarsch der Knaben mit ihren Kerzen, Kreuzen und bemalten Laternen folgte stets das Defilee der Mädchen und Jungfern der Stadt, die sich in ihren langen, spitzenbesetzten weißen Kleidern, mit Brautschleiern und Kränzen auf dem Kopfe, als »Bräute des Herrn« präsentierten. Dass der Herr des Himmels, respektive sein eingeborener Sohn, über so viele Bräute gebot, erregte in meinem Herzen Bewunderung, die sich – ich gestehe es freimütig – schon damals mit einer Art heimlichen Futterneids paarte.
Doch erst wenn die Sterne am Himmel zu sehen waren, fing der heilige Umzug tatsächlich an. An die zwanzig Männer trugen dann auf schweren hölzernen Balken die lebensgroße Figur des Heilands vorbei, der in einem erleuchteten Glassarge ruhte. Diesmal, so hatte die Mutter gesagt, würden auch Onkel Mateo und Onkel Antonio unter den Trägern sein. Onkel Marco war gar die Ehre zuteil geworden, den gläsernen Schrein der schwarzgekleideten Madonna mitzutragen, die hoch über den Menschen thronte. Die Schwarze Madonna war nämlich der Stolz der Insel und ihr höchstes Heiligtum. Nicht nur, dass sie die Fürbitten der Gläubigen erfüllte und Wunder wirkte, ihr Herz war so groß und so voller Mitleid, dass es an bestimmten Feiertagen sichtbar zu bluten begann; und wer sein erkranktes Organ oder Körperteil mit ihrem Blut benetzte, der wurde wieder gesund. Der Schwarzen Madonna folgten im Zuge etwa zwanzig weitere Heiligenfiguren und Monstranzen aus Holz und Leinen, welche die einzelnen Stationen des Leidensweges Christi verkörperten. Bis in die frühen Morgenstunden pflegten die Gläubigen ihre heiligen Lasten durch die Straßen zu schleppen, in gleichmäßigem Wiegeschritt wieder und wieder den Dom, die Kirchen, die Plätze passierend. Wie Glühwürmchen leuchteten dann die tausend Lämpchen und Kerzen, die Musikkapelle spielte ihr ganzes Repertoire von Trauermärschen auf. Und wir Knaben mit Rasseln und Trillerpfeifen immer hinterdrein.
Nun also ist es wieder so weit! Aus der Ferne ertönt Blasmusik. Eine getragene, schwermütige Melodie erklingt – und da naht auch schon der furchterregende, nicht enden wollende Zug der Kapuzenmänner in ihren weißen Kutten, auf denen in blutroter Farbe ein Kreuz gemalt ist, die Gesichter hinter spitzen Masken mit kleinen Sehschlitzen verborgen. Sie gehen in strenger Formation, gruppiert nach den Farben ihrer christlichen Bruderschaften, die sie an den Gurten und Stolen, Kreuzen und Quasten ausweisen. In der einen Hand tragen sie brennende Fackeln, mit der anderen schwingen sie die Rute.
Auch jetzt wieder, da diese vermummten, im Takte der Trommeln stumm daherschreitenden Geiseln Gottes an uns vorüberziehen, läuft mir ein Schauer über den Rücken; und in einer Mischung aus Angst und wohligem Gruseln rücke ich näher an die Mutter und den Großvater heran. Denn natürlich hatte ich schon manche schrecklichen Dinge über die Hl. Inquisition gehört, als die Blutsbrüderschaften in spitzen Masken die Todgeweihten auf dem Wege zum Scheiterhaufen begleiteten. Großvater hat’s noch erlebt – und mir des Öfteren davon erzählt.
Einer der weißen Kapuzenmänner fasst mich jetzt ins Visier, ich sehe das Weiße seines Auges durch den engen Schlitz seiner Maske, drohend hebt er den Arm und wischt mir mit der Rute übers Gesicht. Mir fährt der Schreck in die Glieder, und mir ist, als müsst’ ich vor Angst in die Hose machen. Mein Harndrang nimmt zu, wird schier unerträglich. Wo aber soll ich mich hier, zwischen all den dicht gedrängten Menschen, erleichtern? In meiner Not renne ich bis zur Ecke in die Gasse hinein und erledige am ersten Prellstein endlich mein Geschäft.
Doch kaum habe ich meine Hose zugeknöpft, legt sich mir eine schwere Hand auf die Schulter. Ich fahre herum und blicke in die Augenschlitze eines Kapuzenmannes. Der hebt den Kopf, mein Blick folgt ängstlich dem seinen nach oben. Porca Madonna! Da hängt doch in einer Mauernische, just über dem Prellstein, an dem ich mein Wasser abgeschlagen, ein Schrein mit dem Bildnis der Hl. Jungfrau! Ich hatte es in der Eile gar nicht bemerkt.
»Und was ist das?«, zischt der Kapuzenmann zwischen den Zähnen hervor und deutet mit seiner ausgestreckten Rechten auf das gelbliche Ornament meiner Notdurft, das den frisch getünchten Prellstein verziert.
»Ich weiß nicht, Hochwürden!«
»Du weißt es nicht? Schau genau hin, du gottloser Bube!«
Nochmals betrachte ich die sich kreuzenden Linien meiner gelben Harnspur auf dem weißen Kalkstein, doch ich kann wahrlich nichts Auffälliges, geschweige denn Gottloses daran finden.
»Das ist ein Pentagramm, ein Drudenfuß, Kreuzsapperment!«, donnert der Kapuzenmann. Dann bekreuzigt er sich.
Ich wusste bis dahin gar nicht, was ein Pentagramm oder Drudenfuß ist, geschweige denn, welche Bedeutung er hat. Beim nochmaligen Hinstarren fiel mir indes auf, dass die gelben Linien auf dem Kalkstein eine Art Fünfeck bildeten, deren Geraden einander kreuzten. Ich staunte nicht schlecht über das bemerkenswerte geometrische Ornament, das durch unwillkürliches Hin- und Herschwenken meines Kränchens da mir nichts, dir nichts entstanden war. Ich musste die Magie wohl im Blut, jedenfalls im Urin haben!
Zu meinem Leidwesen war die Karfreitagsprozession, von der ich gerade den Anfang mitbekommen, für mich diesmal zu Ende. Denn der maskierte Unhold packte mich am Schlafittchen und schleppte mich sogleich ins nahe gelegene Benediktinerkloster, wo ich die Nacht auf dem feuchten Strohlager einer Klosterzelle verbringen musste. Am nächsten Morgen wurde ich vor den Abt gebracht. Dieser unterzog mich einem peinlichen Verhör, katechisierte mich, dass mir Hören und Sehen verging, und stellte mir die absonderlichsten Fragen: Ob ich zuweilen, beim Anhören der Messe oder während des Einschlafens, fremde Stimmen hörte? Ob ich Träume oder Gesichte hätte mit dämonischen Fratzen, dem Wolfe, Luchse oder Ziegenbock ähnlich? Ob ich während des Abendgebetes manchmal ein Grimmen im Bauche oder ein Rumoren in den Eingeweiden verspürt